Wir sind alle Teil einer größeren Ordnung, oder: Wenn du etwas nicht aufhalten kannst, musst du eben einsteigen! – Eine Buchempfehlung von Wolf Büntig: Doris Lessing Shikasta

Erscheinungsjahr:
2015
Autor/Autorin:

Diese Buchempfehlung hat Wolf Büntig 1991 geschrieben. Weil sie uns aktuell erscheint, veröffentlichen wir sie hier noch einmal.

Nisiros, eine kleine Insel des Dodekanes, war ein idealer Hintergrund für die Lektüre dieses Buches. Da es keine nennenswerten Strände gibt, beschränkt sich der Tourismus auf die Kneipen der Hafenstadt. Nur morgens kommt, wenn der Seegang es erlaubt, die eine oder andere Fähre von der Nachbarinsel mit ein paar Dutzend Ausflüglern, die sich lärmend in die klapprigen Busse drängen, um zum Vulkan zu fahren – eine Stunde hin, eine zurück, eine halbe für die Besichtigung. Nach dem Mittagessen ist es wieder still.

Wir waren viel zu Fuß unterwegs. Dabei wurden, Tag um Tag, zwei Gefühle immer bestimmender: Tiefe Ehrfurcht angesichts der Spuren einer alten Kultur, tiefe Trauer angesichts ihres offensichtlichen Zerfalls.

Besonders an der rasch abfallenden Nordseite ist die Aussicht atemberaubend. Hier wird der Blick viele Kilometer weit über unzählige Terrassen, die in der starken Sonne baden, hinuntergeleitet zur Küste, die zu allerletzt steil ins Meer abfällt. Diese Landschaft ist durch und durch von Menschenhand gestaltet, doch die in den Hang eingebetteten Zisternen, Ställe und Behausungen ragen nicht hervor; da aus dem gleichen Material, sind sie ureigener Teil der Landschaft.

Hier haben Menschen seit Jahrtausenden ihren Lebensunterhalt mit bloßen Händen erackert. Die Terrassen sind oft so schmal, dass der Bauer beim Pflügen Mühe gehabt haben muss, sein Ochsengespann zu wenden – vier oder fünf Reihen. Überall stehen noch die Stoppeln des gemähten Korns, doch es sind keine Spuren frischen Anbaus zu sehen und in den Unterkünften fehlt jeder Hinweis, dass sie noch bewohnt würden – kein vergessener Kochtopf, kein altes Kleidungsstück, kein Ackergerät. Und die Terrassen zerfallen. Die Mauern geben nach an vielen Stellen, wo sich das Wasser seinen direktesten Weg zum Meer bahnt und so die vom Menschen gewollte Stufe wieder zum natürlichen Gefälle reduziert.

In Nikia, dem am östlichen Kraterrand höchstgelegenen Dorf, ist noch Leben. Dort können wir auf dem um die Mittagszeit menschenleeren Dorfplatz erinnern, dass Stille nicht die Abwesenheit von Lärm ist, sondern eine eindringliche Präsenz, die vom Klappern von Kochgeschirr oder einem Lachen noch vertieft wird.

Emporio, ein einstmals stolzes Dorf auf dem Kamm über der nördlichen Steilküste, ist hingegen weitgehend zerfallen. Vor dreißig Jahren noch lebten hier zweitausend Seelen von dem, was die Erde hergab. Sie hatten alles, was sie brauchten, sagen die Alten: Brot, Gemüse, Käse, Fleisch, Obst und gelegentlich Fisch. Sie waren autark. Jetzt, sagt die Wirtin im Café, die dort geboren ist, sind es noch achtundzwanzig Seelen, die hier ausharren, weil sie das Licht und die klare Luft und die Stille der Höhe nicht mit dem Lärm und der geruchschwangeren Atmosphäre der Hafenstadt tauschen wollen. Doch sie haben nicht die Kraft, ihr Dorf vor dem Verfall zu bewahren, und sie sind restlos abhängig von der Versorgung von außen. Wenn die Fähre nicht anlegen kann, gibt es keine Tomaten; denn keiner bestellt die Äcker.

Da wird mir, wieder einmal, deutlich, dass Kultur ihre Wurzeln hat in der Kultivation des Bodens und im Kult. Wo keine Ernte eingebracht wird, für die man danken kann, verliert der Kult – zum Beispiel das Erntedankfest – seinen Sinn und degeneriert zur Pflichtübung oder zur Unterhaltung – und die Kultur zur Zivilisation.

Eines Tages – wir sind wieder stundenlang gelaufen – habe ich endlich wieder einmal eine direkte Erfahrung. Auf einem ebenen Stück Erde liegend, in der Nähe einer Kapelle, hoch über diesen unzähligen Terrassen mit dem Blick auf das glatte Meer, erfasst mich ein Zustand, in dem sich das Gefühl von Entrückung und von großer Wirklichkeit die Waage halten. Ich finde mich an der Schwelle zwischen der greifbareren Realität (das, was Sache ist) und der wahrnehmbaren Wirklichkeit (das, was wirkt) und weiß mich trotz aller Trauer über den offensichtlichen Zerfall der Kultur um mich herum in der Ordnung. Ich kenne das Gefühl, in Ordnung zu sein, im Sinne der Transaktionsanalyse: Ich bin o. k., Du bist o. k. Doch das soeben Erlebte ist etwas ganz anderes. Ich weiß mich bei allem Zweifel und aller Verzweiflung als Teil einer größeren Ordnung.

Wir alle erinnern gelegentlich die Ordnung jenseits der Spielregeln, die Wahrheit jenseits der Wahrscheinlichkeit, meist als ein mehr oder weniger deutliches Gefühl, selten als klare Vision. Was ist das für eine Ordnung; die wir erkennen, wenn sie sich uns offenbart; in der etwas stimmt, auch wenn es den geltenden Regeln zu widersprechen scheint; und die uns das unangenehme Gefühl gibt, es sei etwas nicht recht, auch wenn es nach den gleichen Regeln richtig ist?

Mit diesen Fragen im Sinn las ich Doris Lessings Shikasta. Dieses Buch stellt die Geschichte der Menschen auf der Erde so dar, als wäre schon einmal gelebte Wirklichkeit gewesen, was Jesus die Talente und die Humanistischen Psychologen das Menschliche Potential nennen. Unser Ziel ist unser Ursprung. Eine ähnliche Sicht vermittelt Castaneda, der seinen Lehrer Don Juan auf die Frage, wohin die Reise gehe, sagen lässt: Dorthin, wo wir herkommen!

Shikasta ist eine in Vergangenheit und Zukunft über die tradierte Geschichte hinausreichende Perspektive auf die Entwicklung der Menschheit aus dem Blickwinkel einer höheren Intelligenz, vermittelt durch einen ihrer Abgesandten, JOHOR, der je nach Notwendigkeit (diesmal als George Sherban) inkarniert, um eine bestimmte Aufgabe – meist in der Form von Belehrung, Erinnerung an das Gesetz oder Ermahnung zum Gehorsam – zu erfüllen.

Shikasta umfasst persönliche, psychologische und historische Dokumente zum Besuch von JOHOR (George Sherban), Abgesandter (von Canopus in der) 87. Periode der Letzten Tage. Shikasta hat – so Doris Lessing (die kursiv gedruckten Teile des Textes sind wörtliche Zitate aus dem Buch) –, wie viele andere Werke der Gattung (Science Fiction) das alte Testament zum Ausgangspunkt. Außerdem scheinen in dem Buch die verschiedensten Schöpfungs- und Entwicklungsmythen (zum Beispiel der von der Abstammung der heutigen Menschen von den Riesen und den Aasen) verarbeitet. Die Autorin meint dazu: Wir haben uns angewöhnt, das Alte Testament achtlos beiseite zu schieben, weil Jehova nicht denkt oder handelt wie ein Sozialarbeiter. ... Die heiligen Literaturen aller Rassen und Nationen haben viel Gemeinsames. Man könnte sie fast für die Werke ein und desselben schöpferischen Geistes halten. Es ist möglich, dass wir einen Fehler machen, wenn wir sie als kuriose Fossilien einer toten Vergangenheit abtun.

Shikasta ist eine unter vielen Kolonien eines unermesslichen Sternenreiches, das von seinem geistigen Zentrum Canopus wohlwollend gesteuert wird durch den ständigen Zustrom einer intelligenten Energie, manifestiert in der Substanz des Wir-Gefühls, kurz SUWG (englisch SOWF – ich halte es für möglich, dass Doris Lessing, deren Bücher gelegentlich mit einer wohlwollenden Empfehlung des eminenten Sufis Idries Shah versehen werden, mit dieser Abkürzung auf das arabische Wort für Wolle und damit auf die Grundsubstanz anspielt, aus der der praktische Mensch durch Spinnen und Weben seinen Mantel beziehungsweise der Erkenntnis suchende Mensch durch Konzentration und Verknüpfung sein geistiges Klima schafft).

Lange Zeit heißt der viel versprechende Planet Rohanda, das heißt die Blühende. In diesem Garten Eden leben die von Canopus entsandten Riesen, die, weil sie sich auf einem anderen Planeten besser als erwartet entwickelt haben, die Eingeborenen unterrichten in der Errichtung der Steine, im Bau der Städte und in der Fähigkeit, Kontakt mit Canopus zu halten: Die Städte waren dort errichtet worden, wo die Steinmuster entsprechend der Notwendigkeit des Plans entlang der damaligen Kraftlinien der Erde aufgestellt worden waren ... Die Anlage und Ausrichtung der Steine hatten zu Beginn die Riesen völlig alleine besorgt ... aber inzwischen war das Einvernehmen zwischen Riesen und Eingeborenen so gut, dass die Eingeborenen bei dieser Aufgabe mithelfen wollten, von der sie wussten, dass sie – wie sie es in ihren Liedern und Geschichten ausdrückten – ihre Verbindung zu den Göttern, zum Erhabenen ausdrückte. ... Die Eingeborenen wurden darin unterrichtet, jederzeit Kontakt mit Canopus zu halten, ... mit ihrem Beschützer, ihrem Erhalter, ihrem Freund, dem, was sie Gott nannten, dem Erhabenen.

Durch eine geringfügige Änderung im kosmischen Kräftespiel gerät Rohanda unter den Einfluss von Shammat, der aus Sicht von Canopus irrtümlich als ein schändliches, aber unwichtiges Anhängsel unterschätzten Kolonie des schrecklichen, aber glücklicherweise weit entfernten Puttiora. ... Shammat ist nur erfolgreich, wo Ungleichgewicht, Unrecht, Schrecken herrschen. An dieser Stelle warnt Doris Lessing entschieden vor der Unterschätzung des Bösen: ... Vielleicht ist es ein Fehler derer, die sich des Friedens und der gegenseitigen Hilfe erfreuen und beides in noch stärkerem Maße anstreben, zu vergessen, dass es außerhalb ihrer Grenzen Wesen ganz anderer Denkart gibt, die sich auf ganz andere Energien stützen. ... Wir hatten keinerlei Ahnung davon, wie Shammat Nahrungsquellen aussaugte und auszehrte, wo sie nur greifbar waren ... Shammat zapft den Kraftstrom von SUWG an und Rohanda degeneriert zu Shikasta, zu deutsch die Verletzte, die Zerstörte.

JOHOR berichtet aus einer Zeit noch vor unserer in erinnerten Ereignissen wurzelnden Geschichte: Wie dunkel es hier ist. ... Die Luft, die wir atmen, ist so dünn und substanzlos, der Vorrat von SUWG so kärglich ... es ist, als ob alles geschrumpft sei. ... Kann es sein, dass diese Menschen die Nachkommen der hoch aufragenden und königlichen Riesen und der prachtvollen Eingeborenen sind ... Ein Hasten, ein Jagen, ein gehetztes Hineinzwängen eines Lebens in ein paar halbverhungerte Atemzüge ... kaum geboren, schon erwachsen, dann alt, dann tot. ...

Die Verbindung zu Canopus hat sich verdünnt zu einem unbewussten Rinnsal, ist jedoch noch nicht ganz abgerissen: ... Der Glanz des Lichts auf einem Baum oder auf dem Wasser, die kurze, herzzerreißende Schönheit ihrer jungen Leute quälen sie, ohne dass sie wissen, warum ... sie machen Lieder und Geschichten, immer mit diesem Hunger dahinter, einem Hunger, den nicht einer von ihnen beschreiben könnte. Und doch ist ihr kleines Leben davon beherrscht, sind sie die Untertanen eines unsichtbaren Königs, während sie doch Shammat den Hof machen, der ihren Hunger mit Blendwerk füttert. ...

Die jetzigen Kinder brechen einem das Herz. Damals wurden die Kinder ... aufgrund so reiflicher Überlegungen geboren, jedes einzelne war erwünscht und kam von den Eltern, die als die besten betrachtet wurden. ... Alle hatten sie so ein langes Leben vor sich, so viel Zeit zu wachsen, zu spielen, zu denken, Zeit, innerlich zu reifen und in sich selbst hineinzuwachsen. Heute werden diese Kinder ganz zufällig geboren, Ergebnisse einer beliebigen Paarung, beliebiger Eltern, werden gut oder schlecht behandelt, wie es das Schicksal will, sie sterben so leicht, wie sie geboren werden ... und doch hat jedes Kind, jedes einzelne, die Fähigkeit in sich, von seinem niedrigen, tierähnlichen Zustand zu wahrer Menschlichkeit emporzusteigen. ...

... ich ging und schaute in die Gesichter der Händler, Bordellbesitzer, Geldverleiher, sah, wie diese Opfer einander behandeln, als bedeute ihr Schicksal eine Berechtigung zu betrügen, zu lügen, zu morden, ... so zu leben, als finde sich jeder allein in Feindesland, ohne Hoffnung auf Gnade. ... Es gibt dort kein Augenpaar, das dem deinen frei, ohne Verdacht oder Furcht begegnen kann, die innere Verwandtschaft wahrnehmend. ...

Das Geschlechtliche ist bei ihnen verzerrt und zerrüttet: Ihre Verzweiflung an dem kurzen Traum, den ihr Leben zwischen Geburt und Tod darstellt, macht aus ihrem Geschlechtstrieb einen Heißhunger, eine verzehrende Flamme. ... Und bevor wir die lange und traurige Geschichte Shikastas hinter uns haben, kommt noch viel mehr und noch Schlimmeres. Es wird eine Zeit kommen, in der dieses arme, kleine Leben als eine herrliche Erinnerung erscheint.

Von dieser unserer Zeit, in der wir uns an die oben geschilderte nur mithilfe der Intuition erinnern können, sagt Doris Lessing:

Es ist lange her, dass die Shikaster fähig waren, ihr Leben ohne Drogen irgendwelcher Art zu ertragen. Ich ... sehe, dass sie fast seit der Zeit, als der Fluss von SUWG sich verringerte, die Schmerzen ihres Zustandes betäuben mussten. ...

Emotionale Drogen hat es endlos viele gegeben ... Die Religion, von jeher das mächtigste Mittel zur Abstumpfung der Realität, hat ihre sicheren Grundlagen verloren ... Die Wissenschaft, die jüngste der Religionen, so fanatisch und unflexibel wie nur eine, hat eine neue Lebensweise, Technologien, Geisteshaltungen geschaffen, die immer verhasster werden und immer mehr Misstrauen erregen. Vor nicht allzu langer Zeit war jeder Wissenschaftler davon überzeugt, dass sein Bereich der große Höhepunkt und die Krone allen menschlichen Denkens, Wissens und Fortschritts war – und verhielt sich entsprechend arrogant. Doch jetzt fangen sie an, ihre eigene Geringfügigkeit zu erkennen, und die verschmutzte und ausgeplünderte Erde erhebt sich als Anklägerin gegen sie. Überall nutzen sich Ideen, Einstellungen, Überzeugungen, die die Menschheit jahrhundertelang getragen haben, ab, lösen sich auf, verschwinden. Was bleibt?

Es stimmt, die Fähigkeit der Shikaster, Brüche in den Mauern ihrer sicheren Überzeugungen zuzugipsen, ist unermesslich. Das schmerzliche Ausgeliefertsein ihrer Existenz, die einer Unzahl von Zufällen jenseits ihrer Kontrolle oder ihres Einflusses unterworfen ist, die Hilflosigkeit, mit der sie von den kosmischen Stürmen umher geworfen werden, die Gewalttätigkeiten und Widersprüche ihres beschädigten Verstandes – all dies ist unerträglich, und trotzdem schließen sie die Augen und beten oder basteln in ihren Laboratorien an neuen Formeln. ...

Welche vielfältigen Wege sind die Shikaster gegangen, um das Wissen um ihre Situation abzuwehren, das immer wieder aus der Tiefe hochzusteigen und sie zu überwältigen droht? Was sonst können sie an sich drücken wie eine Decke in einer kalten Nacht?

Da gibt es die verschiedenen sinnlichen Genüsse, die ihnen um ihres Überlebens willen eingegeben wurden, die Bedürfnisse nach Nahrung und Sex, die jetzt, wo die ganze Spezies bedroht ist, in instinktivem Bemühen zu retten und zu erhalten rasen. Da ist noch etwas, das stärker ist als alles andere: das Wohlbehagen an der sich stets erneuernden, belebenden, heilenden Macht der Natur; das Sich-eins-Fühlen mit den anderen Kreaturen Shikastas, mit seiner Erde, seinen Pflanzen. Der niedrigste, unglücklichste, mit Füßen getretene Shikaster wird sehen, wie der Wind eine Pflanze bewegt und wird lächeln; wird einen Samen in die Erde legen und beobachten, wie er wächst; wird stehen bleiben, um dem Leben der Wolken zuzuschauen. Oder in der Dunkelheit wohlig wach liegen und den Wind heulen hören. ... Von hier ist schon immer eine nicht unterdrückbare Kraft in jedes Lebewesen Shikastas ausgeströmt. Immer wieder auf sich selbst zurückgeworfen, des Trosts und jeder Sicherheit beraubt, nichts anderes als Hunger und Kälte kennend, des Glaubens an Land, Religion, Fortschritt, jeglicher Gewissheit entblößt, wird es ... keinen Shikaster geben, der nicht die Augen auf einem Fleckchen Erde ruhen lässt, das kaum mehr ist als ein Stück saurer und verunreinigter Boden zwischen den Gebäuden eines Slums, und dabei denkt: Ja, aber dort wird wieder Leben kommen. ...

Das ist es, genau das, worauf ich meinen Finger legen will. ... Wo einmal die tiefste, beständigste, stetigste Stütze war, ist jetzt nichts mehr: Es ist die Brutstätte des Lebens selbst, die vergiftet ist, der Samen des Lebens, die Quelle, die den Brunnen nährt. ...

Sie steht da, wie sie es seit Jahrtausenden tut, schneidet Brot, legt geschnittenes Gemüse auf einen Teller, dazu eine Flasche Wein und denkt, dass nichts an dieser Mahlzeit sicher ist, dass die Gifte ihrer Zivilisation in jedem Bissen, jedem Schluck sind, und dass sie ihren Mund mit vielen Toden füllen werden. In einer instinktiven Geste des Schützens und Bewahrens reicht sie ihrem Kind ein Stück Brot, doch hat die Geste ihre Glaubwürdigkeit verloren: Was mag sie dem Kind damit wohl geben?

Wenn er bei der Arbeit ist ... im Gedanken, dass diese, seine Arbeit zum Wohle anderer dient, dass sie ihn mit anderen verbindet, er pulsiert in einem schöpferischen Geflecht mit allen Arbeitern der Erde ... doch ... der Gedanke kann nicht in ihm leben, Bitterkeit und Ärger steigen in ihm hoch, dann Mattigkeit, Ungläubigkeit: er weiß nicht warum, sie weiß nicht warum, aber es ist, als verströmten sie ihr Bestes in das Nichts.

Dies also ist jetzt der Zustand der Shikaster ... Diese Wesen, so unermesslich beschädigt, von ihren Ursprüngen entfremdet und degeneriert, fast verloren, Tiere, weit entfernt von dem, was ihre Gestalter einst im Sinn hatten, sie werden jetzt vertrieben, fort von allem, was sie hatten und hielten, und finden keinen Grund mehr, außer in den unerhörtesten Extremen von – Geduld. Es ist eine ironische und demütige Geduld, ... nach der die Shikaster greifen in ihrem schrecklichen und unwürdigen Ende, während sie zwischen ihren zerbröckelnden, erbärmlichen Artefakten umherschlurfen, scharren, huschen, dabei in Gedanken nach den Höhen suchen von Mut und ... ich schreibe Glauben. Nach reiflichen Überlegungen. Mit aller Vorsicht. In hoffender Hochachtung.

An anderer Stelle lässt die Autorin JOHOR angesichts des zunehmenden Elends auf Shikasta in Erinnerung an Rohanda sagen: Ein wenig Trost zumindest liegt darin, dass so Vortreffliches einmal existiert hat. Das Gute, das gewesen ist, ist ein Versprechen, dass an anderem Ort, zu anderer Zeit, sich wiederum Gutes entwickeln kann. ... Über die Zeiten des Jammers und der Zerstörung mag uns dieser Gedanke Kraft geben.

Doris Lessing gibt den Lesern mit ihrer so sorgfältig ausgearbeiteten Geschichte unserer Herkunft eine Basis, einen tragenden Boden von Erinnerungen; diese mögen sie befähigen, anhand des Lebensweges von George Sherban, dem reinkarnierten JOHOR, sich mit dem Ausmaß des Elends zu konfrontieren, das uns infolge von Entfremdung, Unterdrückung und Ausbeutung von uns selbst, unseren Mitmenschen, der uns tragenden Natur und unseren geistigen Wurzeln – Canopus – mit großer Wahrscheinlichkeit ins Haus steht.

Der Lebensweg von George Sherban, alias JOHOR, beginnt gerade jetzt in dieser unserer Zeit. Er wird in einer der verschiedenen Phasen des Dritten Weltkriegs (zum Beispiel Vietnam- oder Golfkrieg) geboren als Sohn normal sterblicher, doch sorgfältig ausgewählter Eltern – einer sich für die gute Sache aufopfernden Mutter und eines wichtigen Vaters –, die kaum ahnen, dass ihr George ein Auserwählter ist. Er wächst auf wie irgendein begabter Sohn privilegierter – und engagierter – Europäer und begreift selbst erst im Lauf der Zeit seine Bestimmung. Für seine jüngeren Geschwister Benjamin und Rachel ist er, so wie er ist, zunächst eine Zumutung und später eine Herausforderung. Am Beispiel von George Sherbans Familie – erweitert um seine Gefährtin Suzannah – zeigt Doris Lessing vielfältige Möglichkeiten auf, etwas Sinnvolles zu tun, dem Leben zu dienen. Benjamin und Rachel arbeiten schließlich in den Kinderlagern. George ist ständig auf allen möglichen Konferenzen unterwegs – und auf der Hut vor Spionen im Dienste Shammats, die ihm nachstellen, seit sie ahnen, dass er – in immer häufigeren Privattreffen im Hause der Sherbans – das alte Wissen von Canopus vermittelt.

In der Schilderung der Katastrophe hält sich Doris Lessing eher zurück – und doch wird vieles von dem, was 1971, als das Buch herauskam, noch Zukunftsmusik war, von der Wirklichkeit eingeholt, wie wir sie täglich auf dem Fernsehschirm sehen können.

Nach der Katastrophe schreibt einer aus dem wachsenden Kreis der Menschen, die sich dank George Sherban wieder an die Gesetze von Canopus erinnern, in einem Brief an Suzannah: Wenn das Gerede über das Schreckliche anfängt, ist es, als hörten die Menschen nicht. Sie sehen dich unbestimmt an. Ausdruckslos. ... Sie können es nicht glauben. ... Da ist eine Kluft zwischen den Leuten, die Hallo! sagen und: Möchtest du ein Glas Wasser? und den Bomben, die die Welt in Schutt und Asche legen. Deshalb schien auch keiner fähig, das Schreckliche zu verhindern. Sie konnten es nicht erfassen. Ich habe begriffen, dass dieser vage, ausdruckslose Blick in die Vergangenheit gehört. ... Ist Euch aufgefallen, dass wir jetzt anders sind. Wir sind alle viel lebendiger und wacher und brauchen nicht mehr ständig so viel Schlaf, und wir sind aus einem Guss und nicht uneins mit uns selbst. Versteht ihr, was ich meine?

Eine der letzten Aufgaben George Sherbans ist, abseits von den von Shammat ausgelaugten, in sich selbst zusammenfallenden Städten in den Anden beim Aufbau von neuen Siedlungen zu helfen: George bemerkte mit ganz normaler Stimme, dass es gut wäre, wenn wir hier eine Stadt bauten. Die Leute sagten: Wo? Wo sollen wir anfangen? Er antwortete nicht. ... Plötzlich wussten wir alle genau, wo die Stadt stehen sollte. Dann fanden wir eine Quelle ... fanden ganz in der Nähe den richtigen Boden für Backsteine ... alles ist da, was wir brauchen ... und alles geschieht auf diese neue Art ... es ist nicht nötig, zu argumentieren und zu streiten, zu diskutieren und anderer Meinung zu sein, zu beraten und anzuklagen, zu kämpfen und dann zu töten. ...

Wie haben wir damals gelebt? Wie haben wir es damals ertragen? Wir stolperten alle in einer dichten Finsternis ... voller Feinde und Gefahren, wir waren blind unter einer schweren, heißen Last von Verdacht und Zweifel und Furcht. ... Ich muss immer an sie denken, unsere Vorfahren, die armen Tier-Menschen (damit sind wir Menschen des ausgehenden XX. Jahrhunderts gemeint), die ständig mordeten und zerstörten, weil sie nicht anders konnten.

Und für uns wird es so weitergehen, als würden wir langsam erhoben und erfüllt und gereinigt von einem sanften singenden Wind, der unsere traurigen, wirren Gemüter klärt und uns sicher hält und uns heilt und uns füllt mit Lehren, die wir uns niemals vorstellen konnten. Und hier sind wir alle zusammen, hier sind wir ...

Irgendwann mahnt George seine Schwester: Rachel, du musst wirklich versuchen, stärker zu sein. Du hast in vieler Hinsicht ein behütetes Leben gehabt ... Erstens bist du nie in Versuchung gewesen, etwas zu tun was du nicht darfst, weil jemand, den du liebst, hungrig war oder weil du hungrig warst. Und zweitens bist du dein ganzes Leben mit privilegierten Menschen zusammen gewesen.

Gilt das nicht für die meisten von uns? Doris Lessing gibt uns mit ihrem mit weiser Passion geschriebenen Buch einen erheblichen Motivationsschub, Georges Aufforderung nachzukommen: Wenn du etwas nicht aufhalten kannst, musst du eben einsteigen!