Die Humanistische Psychologie etablierte sich in den 1960er-Jahren in den USA neben Verhaltensforschung und Psychoanalyse als die Dritte Kraft der Psychologie.
In Experimenten mit Laboratoriumstieren gewonnene Erkenntnisse der Verhaltensforschung wurden dahingehend gedeutet, dass auch menschliche Verhaltensweisen in Wahrnehmung, Fühlen, Denken und Handeln als konditionierte Reflexe zu verstehen sind, die in der frühen Kindheit gebahnt wurden und in der Gegenwart durch unspezifische Reize – wie das Speicheln des Pawlowschen Hundes durch ein Klingelzeichen – jederzeit wieder ausgelöst werden können.
Die Psychoanalyse hat uns in jahrzehntelanger klinischer Forschung tiefe und unverzichtbare Einsichten in die Neigung der Persönlichkeit beschert, in der frühen Kindheit erworbene Beziehungsmuster auf die Beziehungen der Gegenwart zu übertragen und gegen Veränderungen – auch zum Besseren hin – Widerstand zu leisten (Psychodynamik, Objektbeziehungstheorie).
Die Humanistische Psychologie erforscht darüber hinaus Menschsein vor und jenseits aller Konditionierung beziehungsweise Sozialisierung. Sie sieht den Menschen von Beginn an als einzigartiges, mit einem vielfältigen menschlichen Potential begabtes Individuum an, das sich in mitmenschlicher Beziehung von der durch ihre Vergangenheit geprägten Persönlichkeit zur gegenwartsbezogenen Person entfaltet.
Abraham Maslow, einer der Gründerväter der Humanistischen Psychologie, erforschte, was das eigentlich Menschliche am Menschen ausmacht. Deshalb untersuchte er – im Gegensatz zu Sigmund Freud – nicht die Folgen fehlgeleiteter Sozialisierung, sondern die Eigenart besonders gesunder und in ihrer Menschlichkeit ausgereifter Menschen. Er entdeckte dabei ein umfangreiches Repertoire an spezifisch menschlichen Eigenschaften, das (von Aldous Huxley) sogenannte menschliche Potential.
Das menschliche Potential ist als Inbild (genetischer Code) eingeboren; es wird an einem Vorbild als Wert erkannt, als Bedürfnis, Notwendigkeit und Auftrag erlebt und durch Übung im Alltag als menschliche Kompetenz verwirklicht. Das menschliche Potential entfaltet sich im Lauf der Entwicklung entsprechend einer Hierarchie der Bedürfnisse: Aufbauend auf den Grundbedürfnissen, deren Befriedigung das Überleben sichert (Nahrung, Geborgenheit, Schutz) und das Dasein bestätigt (Beachtung), werden die sozialen Bedürfnisse (Zugehörigkeit, Geselligkeit, Anerkennung und Achtung) sowie die Selbstbehauptungsbedürfnisse (Territorium, Fortpflanzung, Rang und Status) aktualisiert. Ein unbefangener Umgang mit diesen Grundbedürfnissen ist nach den Beobachtungen Maslows eine gute Basis für die Realisierung der spezifisch menschlichen Neigungen – der höheren oder Meta-Bedürfnisse: Interesse, Anteilnahme, Freude, Wille, Wahrheitsliebe, Präsenz, Ästhetik und Kreativität, Wertschätzung und Wertbildung, Dienstbereitschaft, Hingabe, Autonomie, Sinnfindung, und so weiter, bis hin zum Streben nach Selbsterkenntnis, Selbstbewusstheit und Selbstverwirklichung.
Selbstverwirklichung bedeutet dabei keinesfalls ichbezogene Durchsetzung individueller Vorlieben. Vielmehr gehören zum Menschsein das Mitgefühl und die Bereitschaft zum Dienst an der Gemeinschaft ebenso wie – nach Viktor Frankl – die Transzendenz: der Drang, über die durch Sozialisierung definierten Ich-Grenzen hinaus zu wachsen und die Ausrichtung auf eine umfassende Wirklichkeit jenseits der durch gesellschaftliche Übereinkunft festgelegten Realität.
Die sogenannten höheren, spezifisch menschlichen Neigungen haben nach Maslow ebenso Instinktcharakter wie die biologischen Bedürfnisse, von denen sie sich nicht prinzipiell, sondern lediglich durch größere Differenziertheit einerseits und geringere Triebkraft andererseits unterscheiden. Wissensdurst, Mitgefühl und Spiritualität gehören demnach ebenso zu unserer menschlichen Natur wie der Durst nach Wasser, der Beachtungshunger und der Sexualtrieb. Kulturelle Leistung ist – so gesehen – kein Widerspruch zu menschlichen Trieben, sondern deren Erfüllung.
Humanistische Psychologen vertreten hinsichtlich der Möglichkeiten der Entfaltung des menschlichen Potentials vorzugsweise eine optimistische Sichtweise – zum einen durch die Behauptung einer menschlichen Neigung zum Guten, zum anderen durch die Wahrnehmung einer lebenslangen Entwicklungsfähigkeit.
Einzelne Autoren beziehen in die sich entwickelnde Wissenschaft vom Menschen auch das Böse, das Leiden sowie schicksalhafte Verstrickungen ein.
Dabei wird die Aggression – in Anlehnung an Karen Horney – von der Destruktivität unterschieden und als eine Leben unterstützende Kraft gesehen, die den Menschen wie alle Lebewesen befähigt, auf das zuzugehen, was nährt und nützt, von dem wegzugehen, was zehrt und schadet, und gegen das anzugehen, was Integrität bedroht.