Wachstum ins Undenkbare

Erscheinungsjahr:
2005
Autor/Autorin:

GESEKO VON LÜBKE IM GESPRÄCH
MIT DEM ARZT UND PSYCHOTHERAPEUTEN WOLF BÜNTIG

In welcher inneren Verfassung ist der Mensch der Postmoderne?
Wolf Büntig: In unserer Zeit sind wir von unseren Wurzeln entfremdet, wie es so schön heißt. Wir wissen ja oft noch nicht einmal, worum es in einem menschlichen Leben geht. Wo wir herkommen, wo wir hingehen, wofür wir auf der Welt sind – das sind die grundlegenden philosophischen Fragen. Die sind für die Bevölkerung aus dem Blickwinkel geraten. Erst in Krisenzeiten geraten sie wieder in den Blick. Da fehlt uns hierzulande Orientierung. Wir hätten sie von den Kirchen haben können. Aber die wenigsten Leute hören auf die Kirchen oder gehen in die Kirche oder fühlen sich noch dort gebunden. Die Grundproblematik, vor der die Menschen heute stehen, ist Selbstbestimmung gegenüber Fremdbestimmung. Wir vergessen mehr und mehr, dass wir Menschen sind, halten uns für Überlebensroboter, unterwerfen uns sogenannten Sachzwängen, die es überhaupt nicht gibt, vergessen, dass wir diese Sachzwänge freiwillig auf uns genommen haben und gehen da nur aus Gewohnheit nicht raus. In die Therapie kommen immer mehr Menschen, die sich nicht willkommen fühlen auf der Welt; Menschen, die ihr Dasein nicht als Geschenk nehmen können, weil sie nicht erlebt haben, dass sich jemand freut, wenn sie da sind. Menschen, die glauben, man könnte sich die Daseinsberechtigung verdienen, und die sich daran zu Tode arbeiten mit gut sein, brav sein, alles richtig machen, es allen anderen Leuten recht machen. Das ist eine Dynamik, die ich an der Basis aller psychosomatischen Krankheiten sehe bis hin zum Krebs. Dieses Nicht-beheimatet-sein – das nimmt radikal zu.

Sie haben einmal für diesen psychischen Zustand den Begriff der normalen Depression geprägt. Was verstehen Sie genau darunter?
Wolf Büntig: Wo der Einzelne resigniert vor der Aufgabe, sein Wesen zu persönlicher Eigenart zu entfalten, lebt er die normale Depression. Überall da, wo wir uns Sachzwängen unterwerfen, statt unser Leben persönlich zu gestalten, wo wir in lustloser Routine guten Zwecken dienen, statt unserem Leben einen Sinn zu geben, wo wir vor lauter manipuliertem Bedarf keine persönlichen Bedürfnisse mehr erkennen, überall da finden wir Anzeichen der normalen Depression. Wir gelten deshalb beileibe nicht als krank. Solange wir nämlich mitmachen und konsumieren, anstatt zu genießen; produzieren, anstatt wachsen zu lassen; Spaß haben, anstatt uns zu freuen und wehleiden, anstatt wirklich zu leiden; das Leben aushalten, anstatt uns darauf einzulassen – so lange gehören wir dazu und gelten als normal. Der Normale atmet nicht frei, er hält die Luft an, er lässt sich nicht gehen, sondern reißt sich zusammen. Er hält den Kopf oben, er ist bei Verstand, aber weitgehend von Sinnen.

Sie beschreiben damit eine Normalität, die alles andere als gesund ist ...
Wolf Büntig: Wir müssen immer unterscheiden, zwischen dem, was normal ist und dem, was gesund ist. Der durchschnittliche Grad an körperlicher und geistiger Behinderung, der ist normal, aber gesund ist er bestimmt nicht. Es ist normal, mit unglücklichen Gesichtern herumzulaufen, ziemlich steif auf etwas hinzuzielen, was noch gar nicht ist – all das ist normal, aber nicht gesund. Gesund zu sein heißt, anwesend zu sein, zu sehen, was ist, zu schmecken, was ist, zu fühlen, was ist, was einem gut tut, was einem nicht gut tut. Was einen erfüllt, was einen schal lässt – das ist gesund, aber das ist nicht normal. Wirklich mit etwas in Beziehung zu sein, hingegeben zu sein an den Augenblick, das gegenwärtige Leben im beständigen Wandel ganz zu erfahren, das ist nicht normal, aber sehr gesund.

Wie ist es zu dieser Orientierungslosigkeit gekommen, nicht mehr zu wissen, wozu wir leben?
Wolf Büntig: Ich glaube, es hat mit dem allgemeinen Autoritätsverfall zu tun. Ich glaube, es hat mit der Illusion zu tun, dass jeder sein eigener König sein kann. Ich glaube, es hat zu tun mit dem Verlust des Ansehens väterlicher Autorität und es hat zu tun mit dem Verfall der Traditionen, so dass mangels kompetenter und glaubwürdiger Führung durch einen Lehrer oder einen Meister innerhalb der eigenen Tradition die Kriterien beliebig werden und die Menschen orientierungslos sind. Es gab in den alten Traditionen ganz klare Richtlinien dafür, wann wer wohin geschickt wird, um den nächsten Schritt zu lernen. In der Sufi-Literatur gibt es zum Beispiel unzählige Hinweise darauf, dass Meister immer darauf bestanden haben, dass Menschen erst mal lernen sollten, befriedigend einen Alltag zu leben, dass sie lernen, wie man gut isst, trinkt, schläft und beischläft, bevor sie überhaupt das Meditieren anfangen dürfen. Da herrscht eine große Orientierungslosigkeit hier in unserer Kultur.

Ist das ein kulturelles Phänomen?
Wolf Büntig: Das ist ganz sicher ein Preis für Zivilisation. Ich glaube, je mehr Zivilisation wir haben, umso weniger Kultur, weil in der Zivilisation kaum noch etwas kultiviert wird und es keinen Kult mehr gibt, um das Kultivierte nach seiner Ernte zu feiern. Das sind die beiden Grundsäulen von Kultur. Die Kultivierung des Bodens und der Kult. Und beides gibt es nicht mehr. Wir kultivieren nichts mehr, sondern fabrizieren. Da, wo es sich hauptsächlich um das Menschengemachte und nicht um die Kultivierung des Gott- oder Naturgegebenen dreht, da haben wir keine Kultur mehr.

Plädieren Sie dafür, zu früheren Verhältnissen zurückzukehren?
Wolf Büntig: Wir sind gezwungen, uns zu besinnen. Wir können nicht irgendwohin zurückkehren. Aber wir könnten uns zum Beispiel besinnen, ob wir mit den unglaublichen Möglichkeiten, die wir mit unserer Verstandeskraft entwickelt haben, nicht anderen Zielen dienen können, als der Füllung von Portemonnaies, die sowieso schon so voll sind, dass deren Besitzer nicht wissen, was sie damit anfangen sollen – wo die Füllung von Portemonnaies zum Selbstzweck geworden ist. Ich plädiere für die Besinnung: „Wofür sind wir auf der Welt?“ und: „Welchen Sinn macht es in unserem Schaffen, Quantitäten zu vermehren, anstatt Qualitäten zu vertiefen?“

Führt also dieses Vakuum an tiefen Werten zwangsläufig zur Suche nach Werten in anderen Kulturen?
Wolf Büntig: Die Menschen haben zum Teil in unserem Kulturkreis keine Antwort auf diese Frage gefunden. Und da finde ich es legitim, wenn sie weiter auf die Suche gehen. Wir sind ja so weit fortgeschritten oder heruntergekommen, dass wir sehr häufig Kultur mit Zivilisation verwechseln. Wir vergessen dabei, dass die Fortentwicklung von Zivilisation, so wie wir sie materialistisch verstehen, meistens viel Arbeit und Material kostet und dass uns das fehlt bei der kulturellen Beschäftigung des Nachdenkens und des Betrachtens und Beschauens des Lebens. Es gibt von Indianern beredte Zeugnisse schon vor 200 Jahren, dass sie uns auf einem gefährlichen Wege sehen und uns bedauern und sagen: „Ihr entfernt euch immer mehr von der Schöpfung. Wo habt ihr eigentlich eure Wurzeln?“, und neurotische Entwicklungen voraussagen. Diese Kulturmenschen, die wir die Wilden nennen, sind viel mehr in Verbindung mit der Schöpfung, mit der Natur, einschließlich der eigenen und haben viel mehr Zeit, diese Verbindung zu studieren, sich ihre Gedanken darüber zu machen und diese Bilder einzuordnen in ihre Kultur.

Kann eine Orientierung an solcher Weltsicht und solchen Werten Modell sein für uns?
Wolf Büntig: Dass bei Übernahme von geistigen Praktiken aus fremden Kulturen viel Irrtum geschieht, ist klar. Denn die Esoterik ist sinnlos ohne die Exoterik. Also wir meditieren jetzt zum Beispiel alle, aber wir reißen die Praxis der Meditation raus aus dem traditionellen Rahmen, dem exoterischen Rahmen und vergessen alle Regeln dafür, wann meditiert werden soll, wann man überhaupt erst damit anfangen soll, und auch, wann man wieder damit aufhören soll. Meditation wird zum Selbstzweck und kann natürlich genauso in die Sackgasse führen wie alles andere, was nicht unter sorgfältiger Anleitung geschieht.

Heißt das, wir brauchen Lehrer?
Wolf Büntig: Ich glaube, man kann Weisheit nicht lehren. Man kann Weisheit vorleben und man kann Weisheit entwickeln in der Auseinandersetzung mit dem Leben, in der bewussten Hingabe an das Leben. Diese Entwicklung hat eine gewisse Konsequenz. Und so wie das Gehen nach dem Krabbeln kommt, gibt es dort auch hierarchische Stufen der Entwicklung. Diese Stufen sind in den Traditionen beschrieben und die Lehrer sind diese Stufen selbst gegangen und sehen den Schüler hinsichtlich der Stufen – wie weit er ist – und können dann auch sagen, was der nächste Schritt ist. Es gibt sicher Menschen, die eine hohe Entwicklung durchgemacht haben auch ohne die Begleitung eines Lehrers. Das erkennen alle Religionen an. Und sie sagen zugleich: Es ist der mühsamere und der mit sehr viel mehr Irrtümern behaftete Weg. Dann gibt es die Dogmen, die geben die Bilder vor, die einen begleiten auf diesem Stufenweg. Aber die in diesen Bildern vermittelten Inhalte wollen natürlich von jedem persönlich erfahren werden, sonst haben wir Kirchenfrömmigkeit und die Entwicklung stagniert. Ja, ich glaube, wir brauchen Lehrer.

Was ist die Aufgabe eines Lehrers auf dem Weg der persönlichen Entwicklung?
Wolf Büntig: Jeder Mensch hat ein inneres Wissen um das Menschsein. Es ist ein inneres Wissen um die Entfaltungsmöglichkeiten und um den Auftrag, den wir ins Leben mitbringen und dieser Auftrag wird geweckt durch Leben. Wir leben mit dem Vertrauten bis das Vertraute langweilig oder schmerzlich wird. Das heißt, wir wachen auf durch das Leiden an den Begebenheiten und Bedingungen. Und dann suchen wir nach außen etwas, was als eingeborenes Wissen eigentlich in uns ist. Manchmal stolpern wir zufällig hinein und sagen: „Ach, das ist es, wonach ich mich die ganze Zeit gesehnt habe.“ Die Aufgabe eines Lehrers wäre es, uns an Erfahrungen heranzuführen, die uns an das erinnern, was wir wissen, ohne es zu wissen. Graf Dürckheim nannte dieses innere Wissen „inbildhaft“ – wir haben innere Bilder von dem, was menschengemäß ist. Wir brauchen für die Entfaltung dieser inneren Bilder Vorbilder, Menschen, an denen wir das verwirklicht sehen, um überhaupt zu wissen: „Ah, was ich da drin habe, das gibt es!“, um es wiederzuerkennen und uns dann der Disziplin zu unterwerfen, das selbst zu verwirklichen.

Entsteht inneres Wachstum aus Krisen?
Wolf Büntig: Viele Punkte, an denen wir uns in der Krise wähnen, sind Wendepunkte. Und an solchen Wendepunkten können wir ein bestimmtes Muster erkennen. Wendepunkte sind Phasen in unserem Leben, an denen aus dem Alten das Neue geboren wird, in denen wir gewordene Form verlieren und neue Gestalt finden, in denen wir Bekanntes in Frage stellen und uns öffnen für das Unbekannte. Und das Unbekannte ist auch das, wozu wir uns noch nicht bekannt haben. An Wendepunkten geben wir den Halt auf, den wir am Gewohnten hatten, um dem zu begegnen, was werden will. An Wendepunkten nehmen wir Abschied von der Persönlichkeit, die wir waren, und begrüßen die Person, die wir gerade werden. Lebenskrisen sind eine Chance, aus dem Tiefschlaf aufzuwachen, sie rütteln uns auf, stellen das Gewohnte in Frage und fordern uns zu Übergängen heraus. Die Ängste, die wir in solchen Momenten haben, entsprechen der Angst vor dem Sterben. Wann immer an Wendepunkten gewohnte Ordnung erschüttert wird, wird gebundene Lebenskraft frei und ordnet sich zu neuer Form. Wo immer wir hingegen diese Chance nicht wahrnehmen, vor dem Unbekannten zurückschrecken, uns vor der Verantwortung für das Neue drücken, zögernd den nächsten Schritt zu machen, deprimieren wir die Person, die wir werden, zugunsten der Persönlichkeit, die wir waren.

Wenn die Krise ein Rückzug ist, in dem sich Wandel vollziehen kann, kehrt der gereifte Mensch dann mit neuer Identität in die Gemeinschaft zurück?
Wolf Büntig: Unser Bewusstsein für unsere Identität ist meist nur teilweise entwickelt. Wir verwechseln Identität – wer wir sind – mit der Identifikation mit Bildern von uns selbst. Der Weg zu Identität führt immer über die Selbsterfahrung. Nur wenn wir durch Erfahrung herausfinden, wer wir eigentlich sind jenseits dieser Bilder – wer wir zu sein vorgeben. Nur wenn wir aufgeben, danach zu schielen, was die anderen von uns vermeintlich erwarten, können wir erfahren, wer wir sind, als wer wir gemeint sind, wofür wir auf die Welt gekommen sind. Und ich glaube, dass wir nur in dem Maße beziehungsfähig sind, wie wir identisch sind mit denen, die wir sind, und nicht mehr verhaftet sind in Bildern davon, wie wir hätten sein sollen, wie wir gerne wären, wie wir glauben sein zu müssen, um akzeptiert zu sein. Ich glaube, dass wir nur in dem Maße, in dem wir mit uns eins, d. h. identisch sind, indem wir wissen, wer wir sind, uns auch dem Anderen zeigen und zumuten und dadurch Beziehungen eingehen können. Und auch nur in dem Maße, in dem wir unserer eigenen Identität sicher sind, in dem wir dieselben sind, die wir sind, können wir auch andere so sein lassen, wie sie sind. Und das ist immer ein Weg und kein Ziel. Wer nicht autonom ist, kann keine Beziehung eingehen, und nur in Beziehung kann ich autonom werden. Die beiden gehören zusammen. Nur der Selbständige kann Abhängigkeit ertragen. Und nur indem ich meine Abhängigkeit von den Mitmenschen anerkenne, kann ich werden, wer ich bin. Sonst werde ich nur ein isolierter Zombie, der irgendwo im Weltall herumschwirrt und seine Gedanken über sich selbst für sich selbst hält, ohne fürchten zu müssen, dass jemand seine Selbsttäuschung infrage stellt, denn es ist ja sonst niemand da.

Heißt das, es geht eigentlich darum zu werden, was wir schon sind?
Wolf Büntig: Das Ziel ist, wieder dort anzuknüpfen, wo wir vor den Erfahrungen von Mangel und Trauma waren, bevor wir geprägt und konditioniert wurden. Das heißt, am Wesen der Person anzuknüpfen, an ihrem Dasein, an ihrem Interesse, an ihrer Wahrnehmung, an ihrer eigenen Würde, an ihrem Mitgefühl, am Gefühl für den eigenen Wert als Geschöpf, an der Aufrichtigkeit – so wie Kinder sind, bevor sie anfangen zu schauen, wem sie es recht machen können.


Aus: Politik des Herzens
Nachhaltige Konzepte für das 21. Jahrhundert
Gespräche mit den Weisen unserer Zeit
von Dr. Geseko von Lüpke
© Arun-Verlag, Engerda 2003