Die Überlebenseinheit ist nicht der sich fortpflanzende Organismus ... Die Überlebenseinheit ist ein flexibler Organismus-in-seiner-Umgebung.
(Gregory Bateson)[1].
Betroffenheit
BÄUME
BÄUME
DIE WINDEN SICH
ÜBERREGNET VON UNSICHTBAR
VERPECHTE POREN
VERSTOPFTE HAUT
FRÜHZEITIGES BLATTGELB
ODER NADELROT
KÄFERKAHL
BÜSCHELWEIS DÜRR
FLECHTENERSTICKT
BÄUME
DIE BIEGEN SICH
SPLITTERN
IN EINEM STURM
DER WÜTET
VON UNS HER
Dieses Gedicht ist einige Jahre alt. Vor kurzem sprach ich vor einem Gremium von ungefähr zwanzig Personen über ökologische Fragen und sich daraus ergebende Aufgaben. Ich hatte mir die Worte zurechtgelegt, war mir klar, was und wieviel ich sagen wollte, und daher völlig ruhig, als ich zu sprechen begann. Als ich jedoch schildern wollte, welche Veränderungen ich bei einem Wald wahrnehme, den ich seit früher Jugend kenne, versagte mir für einige Augenblicke die Stimme, und ich war von meiner Betroffenheit selbst betroffen. Denn das mir vertraute Gefühl der Verzweiflung über den Zustand dieses Stückes Natur, das im Hintergrund immer vorhanden ist, hatte sich in einer Umgebung und in einer Weise in den Vordergrund gedrängt, in der ich dies niemals erwartet hätte; und während ich noch stockte, spürte ich gleichzeitig, dass die meisten der anwesenden Personen diese Betroffenheit teilten. Die anschließenden Gespräche bestätigten dies, und in der Rückschau habe ich den Eindruck, dass diese Gemeinsamkeit der Hintergrund des ganzen Vorganges war.
Bei der Lektüre des Buches Ökopsychologie von Theodore Roszak [2] – auf das ich weiter unten ausführlich eingehe – tauchte diese Erinnerung wieder auf; und es leuchtete mir ein, dass es offenbar nicht nur die Ebenen des persönlichen Unbewussten und des zwischenmenschlichen Unbewussten gibt, sondern dass es darüber hinaus noch eine andere, uns allen gemeinsame Ebene geben muss, die Roszak das ökologische Unbewusste [3] nennt. Durch diese Bewusstseinsebene sind wir mit der außermenschlichen Natur verbunden; und das ist notwendig, denn was sie betrifft, betrifft uns alle.
Aus meiner heutigen Sicht kann man sich dieses ökologische Unbewusste aus folgenden Elementen zusammengesetzt vorstellen.
Erstens: eine auf Umweltkatastrophen und ähnliches bezogene Überlebensangst, die dem persönlichen Unbewussten nahesteht und häufig mit Anklage gegen und Empörung über die Eltern und frühere Vorfahren verbunden ist.
Zweitens: ein kollektives Schuldgefühl, das aus dem Wissen um die Eingebundenheit in menschliche Beziehungszusammenhänge erwächst, und sich häufig mit einem Gefühl von Machtlosigkeit mischt.
Drittens: ein Wissen um die gegenseitige Abhängigkeit von menschlicher und außermenschlicher Natur und um die Konsequenz bestimmter Handlungen. Damit eng verbunden ist das Mitgefühl für Tiere und Pflanzen und alle lebendigen Wesen, eingeschlossen die ganze Erde als lebendiger Organismus. Diese Fähigkeit des Mitfühlens kann sich auf alles beziehen, was neuerdings mit dem Begriff Biosphäre bezeichnet wird, von der wir ein Teil sind.
Selbstverwirklichung: die individuell-biographische Sicht
Sigmund Freud, Carl Gustav Jung und Alfred Adler – die Begründer der modernen Psychotherapie – standen in der Tradition der Persönlichkeits-Psychologie des beginnenden 20. Jahrhunderts, die sich mit Charakterstrukturen und dem Aufbau der Person (Philipp Lersch) beschäftigte. Als Antwort auf die Frage, was den Menschen steuert und motiviert, rückte für sie die Tiefenschicht der Persönlichkeit, das sogenannte Unbewusste in den Mittelpunkt des Interesses. Für Freud war es vor allem der Sexualtrieb, für Adler der Macht- oder Geltungstrieb, der diese unbewusste Tiefenschicht bestimmt. Für Jung war es das Streben nach Individuation oder Selbst-Werdung, das den Menschen aus dem Unbewussten her führt und ihm in seinen Träumen entgegentritt.
Auch die Humanistische Psychologie hat hauptsächlich die individuelle Biographie im Blick: erfüllte Sexualität und Selbstverwirklichung sind aus ihrer Sicht die Grundlagen psychischer Gesundheit. Um psychische oder psychosomatische Störungen zu bessern, sucht man nach Ursachen, das heiß nach Traumen der frühen Kindheit oder Jugend. Therapie versteht sich als Hilfe, innere Fesseln zu sprengen und durch Selbstverwirklichung ein erfülltes Leben zu finden – eine Erwartung, die der Aufbruchsstimmung der sechziger und siebziger Jahre entsprach.
Wechselwirkung: die systemisch-ökologische Sicht
1972 erscheint in Amerika jedoch auch ein Werk Gregory Batesons, das den Titel Ökologie des Geistes trägt. In ihm formuliert dieser kreative Denker grundlegende Einsichten der systemischen Sicht und gibt damit den systemtherapeutischen Methoden – wie Familientherapie, Hypnotherapie und Neurolingistisches Programmieren (NLP) – einen umfassenden theoretischen Hintergrund. Psychische Gesundheit hängt in diesem Therapiekonzept von der adäquaten Anerkennung des Beziehungszusammenhanges ab; und systemtherapeutisches Vorgehen beachtet in erster Linie diesen Kontext eines Menschen. Der Blickwinkel der Selbstverwirklichung oder individuellen Persönlichkeits-Entfaltung wird ergänzt, und teilweise ersetzt, durch das Konzept der Wechselwirkung unter Menschen, vor allem innerhalb der Familie.
Batesons systemisch-ökologischer Ansatz
Die Metapher Ökologie des Geistes weist darauf hin, dass Bateson einer der Vorreiter ökologischen Denkens war, und dass therapeutische und ökologische Überlegungen bei ihm ineinanderflossen. Er sagt zum Beispiel: "Schizophrenie, Deutero-Lernen und der Double-Bind hören auf, Probleme der Individualpsychologie zu sein und werden Teil der Ökologie von Ideen in Systemen oder der Ökologie des Geistes, dessen Grenzen nun nicht mehr mit der Haut der beteiligten Individuen zusammenfallen" [4]. Er beschäftigt sich eingehend mit den Pathologien und Paradoxien systemischer Entwicklungen, die sich aus dem Gegensatz zwischen dem Überlebenswillen des Einzelnen und der Notwendigkeit der Evolution ergeben können, die auf diesen Überlebenswillen häufig keine Rücksicht nimmt; und er weist darauf hin, dass die westliche Zivilisation in ihrem Bestreben, individuelles Leben zu schützen und zu erleichtern, das Überleben des Lebens auf dieser Erde gefährdet. Einen Ausweg aus dieser bedrohlichen Entwicklung böte – nach Batesons Meinung – die Berücksichtigung einer Ökologie des Geistes; und wer sich anhand seiner Schriften in systemisches Denken einarbeitet, dem wird klar, dass er nicht nur die menschlichen Beziehungszusammenhänge wie Familien, Völker, Kulturkreise und die Menschheit als Ganzes, sondern auch den Beziehungszusammenhang von Mensch und natürlicher Umwelt in seine Überlegungen einbezieht. Das bedeutet, dass er aus ökologischer Sicht denkt. Sein einige Jahre später erschienenes Werk heißt Geist und Natur.
Systemische Kurztherapien als Antwort auf die heutige Situation
Individuation, das heißt Entwicklung der Persönlichkeit, war offensichtlich bis in die Mitte unseres Jahrhunderts ein legitimes Ziel in unserem Kulturkreis, und Therapieformen, die sich diesem Konzept verpflichtet fühlen, gehören in diesen Entwicklungszusammenhang.
Heute, am Ende des Jahrhunderts, hat sich die Situation geändert: die Schattenseiten, die jede Entwicklung mit sich bringt, treten deutlich hervor. Wie es Bateson schon in den siebziger Jahren formulierte, gefährdet unsere Kultur, in der Absicht, individuelles Leben zu schützen und individuelle Bedürfnisse nicht nur zu befriedigen, sondern in einer zum Teil unsinnigen Weise zu steigern, das Überleben des Lebens auf dieser Erde. Wir sind gezwungen anzuerkennen, dass wir als Individuen in vielfältige Wechselwirkungen eingebunden sind; dass wir aber gleichzeitig persönliche Verantwortung tragen: ein existenzielles Paradox tut sich auf.
Die systemischen Kurztherapien, wie Hypnotherapie, Familientherapie und NLP, entstammen – wie oben dargestellt – aus einer Umgebung, in der der Paradigmenwechsel von der personalen zur systemischen Sicht stattfand. Deshalb steht zum Beispiel beim zirkulären Fragen – wie im Mailänder oder Heidelberger Ansatz – oder beim Wechsel der Positionen – wie im NLP – oder in partnerbezogenen Aufgaben – wie im Ericksonschen Vorgehen – der Beziehungszusammenhang einer Person im Vordergrund. Dadurch erfährt sie einerseits die Möglichkeit, das Problem durch die Augen des Anderen, das heißt von einer anderen Seite her, zu sehen und damit neue Gesichtspunkte und Lösungsmöglichkeiten zu gewinnen. Andererseits entwickelt sich durch diese Erfahrungen eine Art systemisches Bewusstsein als Bewusstsein des unausweichlich in Beziehung-Stehens. Das Konzept des, und der Umgang mit dem Unbewussten wird ergänzt durch das Konzept und den Umgang mit dem Zwischenbewussten [5].
Ein anderes, überzeugendes Beispiel ist die Entwicklung, die die systemische Psychotherapie Bert Hellingers in den letzten Jahren genommen hat, und der Zuwachs an Resonanz, den sie erfährt. In ihr ist die Anerkennung des Familienzusammenhangs verknüpft mit der Anerkennung einer Grundordnung. Dies wirkt offensichtlich in einer Zeit auf viele Menschen anziehend und heilend, in der das Bewusstsein von Ordnung und Verantwortung im Schwinden begriffen ist.
Systemische Methoden sind nicht nur therapeutisch wirksam. Sie vermitteln darüber hinaus einen Erfahrungshintergrund, der in die Praxis des Alltags hineinwirkt. Allerdings bleibt auch in ihnen die oben angesprochene Wechselwirkung mit der außermenschlichen Natur weitgehend unbeachtet.
Ökopsychologie
Im Jahr 1992 erschien unter dem Titel The Voice of the Earth (Ökopsychologie) ein Buch von Theodore Roszak, der mit seiner Veröffentlichung Counterculture (Gegenkultur) schon in den siebziger Jahren zu den wichtigsten Anregern der Avantgarde gehörte. In seiner neuen Veröffentlichung bringt Roszak viel beunruhigendes Material über die heutige ökologische Situation und die möglichen Folgen. Man bemerkt, dass seit Batesons Ökologie des Geistes zwanzig Jahre vergangen sind. Denn die Situation hat sich in zweierlei Hinsicht zugespitzt. Einerseits ist über tatsächliche und potentielle Schäden heutzutage noch mehr bekannt als damals. Andererseits macht es die weltpolitische Situation heute noch viel weniger wahrscheinlich, dass ökologische Maßnahmen größeren Ausmaßes durchgesetzt werden können. Trotzdem – oder gerade deswegen – ist die Aufgabe überfällig, sagt Roszak, "die Kluft zwischen dem Persönlichen und dem Planetarischen in einer Weise zu überbrücken, die politische Alternativen nahelegt" [6].
Roszak stellt fest, dass moralische Appelle oder Vernunftgründe nur von sehr bedingter Wirksamkeit sind, wenn es darum geht, ein ökologisches Bewusstsein zu entwickeln und ökologisches Handeln in Gang zu setzen. Stattdessen setzt er auf die Erkenntnis und die Praxis der modernen Psychotherapie, die allerdings, wie schon erwähnt, bislang nur den persönlichen und den zwischenmenschlichen Bereich im Blick hat. "Freuds Überzeugung nach ist die Natur das ewig Unnahbare und Fremde: sie bringt uns um, kalt, grausam und rücksichtslos." [7]
Jung besaß zwar eine starke Naturverbundenheit, er hat diese persönliche Kraftquelle jedoch nicht explizit in seine psychotherapeutische Arbeit einbezogen. Allerdings hat er einige theoretische Schriften hinterlassen, wie die über Alchemie und die über Parallelen zwischen Quantenphysik und Psychoanalyse in dem Briefwechsel mit dem Physiker Pauli, die darauf hindeuten, dass ihn die Wechselbeziehung zwischen Seele und außermenschlicher Natur beschäftigte. Auch die humanistischen und die systemischen Therapien blieben, wie oben dargestellt, ebenfalls weitgehend im persönlichen und zwischenmenschlichen Bereich. Neuerdings haben zwar schamanistische Rituale wie Visionssuche und Schwitzhütte in die alternative Psychotherapie Eingang gefunden, die etablierten Methoden ignorieren die ökologische Realität jedoch weitgehend.
Definition und Aufgabe der Ökopsychologie
Es ist Roszaks Anliegen, diese Lücke zu schließen. Er gibt eine Definition des ökologischen Unbewussten und stellt die Aufgaben einer Ökopsychologie dar. In den folgenden Zitaten sind wesentliche Punkte zusammengefasst.
"Der Kern des Bewusstseins ist das ökologische Unbewusste. Für die Ökopsychologie ist die Unterdrückung des ökologischen Unbewussten die tiefste Wurzel des kollusiven Wahnsinns in der Industriegesellschaft; offener Zugang zum ökologischen Unbewussten ist der Weg der Heilung."8
"Wenn es das Ziel früherer Psychotherapien war, die verdrängten Inhalte des Unbewussten zugänglich zu machen, so ist das Ziel der Ökopsychologie, den latenten Sinn für ökologische Interdependenz, der im ökologischen Unbewussten verankert ist, wieder zum Leben zu erwecken. Andere Therapien versuchen, die Entfremdung zwischen Mensch und Mensch, Mensch und Familie, Mensch und Gesellschaft zu heilen. Die Ökopsychologie versucht, die fundamentale Entfremdung zwischen dem Menschen und seiner natürlichen Umwelt zu heilen."9
Roszaks Buch ist keine bequeme, sondern eine beunruhigende Lektüre; und selbst, wenn man seiner manchmal überfliegenden und vieles mit vielem verbindenden Betrachtungsweise mit gewissen Vorbehalten gegenübersteht, muss man ihm in vielem Recht geben. Er bietet Denkanstöße und Hinweise für alle, denen ökologische Praxis am Herzen liegt.
Die Natur als Beziehungspartner
Als Ergänzung der systemtherapeutischen Arbeit liegt es nahe, die Natur als "Partner mit unverhandelbaren Bedingungen" (Gunther Schmidt) zu sehen. Sei es, dass man den Körper als das uns am nächsten liegende Stück Natur anerkennt und in Therapie und Selbsterfahrung einbezieht. Sei es, dass man durch Mitfühlen und im Schauen durch die Augen des Anderen einen emotionalen Kontakt zu der uns umgebenden Natur aufbaut und die Hilflosigkeit der Kreatur menschlichen Einwirkungen gegenüber erlebt; oder dass man sich der unmittelbaren Gewalt natürlicher Vorgänge aussetzt, um die eigene Hilflosigkeit und das Gefühl des Ausgeliefertseins zu erfahren. Die oben erwähnten schamanistischen Rituale – die durch das Bewusstsein von Wechselwirkungen systemischem Denkens nahestehen – zeugen davon, dass solche Erfahrungen innere Ordnung stiften, und körperlich und seelisch Heilung bewirken können.
Dies ist der Hintergrund, auf dem in diesem Programm ein zweiteiliger Workshop Systemisches Denken und Naturerfahrung (Naturerfahrung, Körperwahrnehmung und systemische Sicht) angeboten wird. Er soll dazu beitragen, dass sich in den Teilnehmern die Fähigkeit des Mitfühlens mit der außermenschlichen Natur verstärkt und ein über die intellektuelle Einsicht hinausgehendes ökologisches Bewusstsein weiterentwickelt.
[1] Gregory Bateson, Ökologie des Geistes, Suhrkamp, TBW 171, Frkft. 3. Aufl. 1990, S. 579f. Umstellung durch die Autorin.
[2] Theodore Roszak, Ökopsychologie, Kreuz-Verlag, Stgt. 1994.
[3] Roszak, Ökopsychologie, z. B. S. 442f.
[4] Bateson, Ökologie des Geistes, S. 437.
[5] Vgl. Eva Madelung, Kurztherapien, Kösel, Mchn., 1996.
[6] Roszak, Ökopsychologie, S. 16.
[7] A.a.O. S. 72.
[8] A.a.O. S. 442.
[9] A.a.O. S. 443.