"Du hast mich angesprochen." Zu den Bildern von Eberhard Warns

Erscheinungsjahr:
2009
Autor/Autorin:

Vor einiger Zeit war ich zu einer eigenartigen Aufgabe eingeladen. Eine Studiengruppe hatte Fachkräfte unterschiedlicher Berufsgruppen Informationen über die Alzheimersche Krankheit und die von ihr betroffenen Menschen zusammentragen lassen. Ärzte, Pfleger, Krankenschwestern, Angehörigenvertreter, Juristen, Hirnforscher, Vertreter des Sozialmanagement, und so weiter, sammelten in einschlägigen Institutionen und gesellschaftlichen Gruppen Informationen über diese für uns so unheimliche Krankheit, die manche gar nicht für eine Krankheit halten, sondern für eine Alterserscheinung, mit der wir zurechtkommen lernen müssen. Diese Informationen wurden am besagten Treffen gesammelt, in kleinen Gruppen aufgearbeitet und in Kurzreferaten den Tagungsteilnehmern mitgeteilt. Meine Aufgabe war nun, mir die unterschiedlichen Referate anzuhören, um zum Abschluss eine Aussage zu machen, die über das Vorgetragene hinauswies.

Ich war etwas zu früh dran und hatte Zeit, mich für eine Weile in die Kirche zu setzen, in deren Gemeindehaus die Tagung stattfand. Nach einer Weile der Sammlung fiel mein Blick auf ein Bild, das im Umgang des Kirchenschiffs hing und meine Aufmerksamkeit unwiderstehlich anzog. Als ich näher kam, sah ich, dass dieses Bild ein Teil einer Reihe von großen Bildern war, die mich ansprachen, meine Aufmerksamkeit bannten, mich fesselten. Zumeist mit kraftvollen Balkenstrichen gemalt, waren sie Zeichen – aber wofür? –, ja sogar persönliche Aussagen – aber von wem und worüber?

Je länger ich die Bilder betrachtete, umso deutlicher wurde mir, dass es nicht die Bilder waren, die mich ansprachen, sondern eine Person. Jemand sprach zu mir durch diese Bilder. Hinter diesen Bildern war jemand, einer, der mich ansprach, der Du sagte und mich ins Gespräch verwickelte. Wer bist du? Du da, der meine Aufmerksamkeit so fesseln kann? Was willst du mir sagen mit deinem geradlinigen Strich, deiner entschiedenen Farbwahl, deinen so rhythmischen wie ruhigen, so lustigen wie schweren, so borstigen wie widerborstigen Wiederholungen, deinem Bekenntnis zum Lot, zum Aufrechtsein, zur Aufrichtigkeit. Die Zeichen waren Aussagen von einem, der ebenso vielfältig wie eindeutig anwesend war, auch wenn er, wie ich später erfuhr, mental für seine Umwelt nicht mehr erreichbar war. Selten habe ich so unwiderlegbar den Irrtum aufgedeckt gesehen, dem wir unterliegen, wenn wir Geist und Verstand verwechseln. Hier war trotz eines defekten Hirnes ein großer Geist am Werke. Die Person, über die sich dieser Geist ausdrückte, setzte Zeichen, an denen man sich reiben konnte, die einen aber auch in den unendlichen Raum jenseits der Verdinglichung einlud. Welche Weite!

Tief beeindruckt von dieser Begegnung ging ich in die Versammlung, in der die Ergebnisse der Feldstudien mitgeteilt wurden. Ich wusste nicht, was ich würde sagen wollen, ich war ja – außer durch eine lebenslange bewusste Auseinandersetzung mit meiner Seele – nicht vorbereitet. Doch es tauchten Erinnerungen auf und Fragen: Warum hatte ich als Student, der auf der Intensivstation in der Chirurgie Nachtdienst machte, in der horchenden Hinwendung zu Menschen im Koma den Eindruck, mit ihnen zu kommunizieren, und warum lächelten sie, wenn ich mit ihnen sprach und sie freundlich berührte? Warum sagten Frauen, die ihr Kind in Narkose geboren hatten, "Nie wieder!"? Warum kommt es bei Chirurgen, die während der Operation für ihre Patienten beten, seltener zu Komplikationen, und warum erholen sie sich schneller? Warum sind viele Menschen im Sterben so schön?

Als einer der Gesprächsteilnehmer einen Hirnforscher zitierte, der meinte, bei Dementen könne man nicht mehr von Personen sprechen, die seien als menschliche Wesen eigentlich nicht mehr vorhanden, erinnerte ich mich an den Begriff vom lebensunwerten Leben der Nazis, das von vielen deutschen Wissenschaftlern in einem einseitigen Verständnis der Lehre von Charles Darwin im 19. Jahrhundert entwickelt wurde. Da wusste ich, was ich würde sagen müssen.

Während ich mit halbem Ohr den Berichten folgte, um Anhaltspunkte zu finden, auf die ich mich würde berufen können, sammelte ich einen kleinen Stapel von mit Stichworten besetzen Notizzetteln an, die mir damals als Leitfaden dienten für das, was ich glaubte sagen zu müssen, und heute helfen, mich zu erinnern an das, was ich damals – so oder so ähnlich – sagte.

Ich bin, du bist, er/sie ist ... eine verkörperte Seele. Unsere Menschlichkeit ist uns inbildhaft eingeboren als menschliches Potential. Wir brauchen menschliche Vorbilder, um uns dieses Potentials bewusst zu werden, und einen an der Entfaltung dieses Potentials interessierten Beziehungsraum, in dem die junge Seele gemäß ihrer Eigenart und Einzigartigkeit reifen kann. Je mehr der heranwachsende Mensch von diesem Potential entfaltet, umso mehr wird er zur Person, durch die seine Natur, die Menschlichkeit, hindurchtönt (lateinisch personare). Je weniger er im Ausdruck seiner Eigenart unterstützt und je mehr er darin den Normen derer unterworfen wird, von denen er in seiner Entwicklung abhängig ist, umso mehr verkümmert sein Potential zur Persönlichkeit, die etwas darstellt, wie Shakespeare in den Worten von Jorge Luis Borges: "Damit seine Niemandverfassung nicht auffiel, hatte er sich angewöhnt, so zu tun, als wäre er jemand. In London ergriff er den Beruf, für den er prädestiniert war. Er wurde Schauspieler und tat auf einer Bühne so, als wäre er ein anderer, vor einer Ansammlung von Leuten, die so taten, als hielten sie ihn für jenen anderen".
Die Identifikation mit den Rollen, die wir in der frühen Kindheit spielen lernen, lässt uns ein Selbstbild entwickeln, das nicht im Einklang ist mit unserer ursprünglichen Natur. Da es nicht unserer Wahrheit entspricht, braucht es ständige Bestätigung – so wie der Schauspieler die Spiegelung durch Applaus oder zumindest Buh-Rufe für seine Daseinsbestätigung braucht.
Wenn Sein und Schein, gelebte Wirklichkeit und Selbstbild übereinstimmen, sprechen wir von Identität. Die Bilder von Eberhard Warns sind beredter Ausdruck von Identität und Autonomie; Zeugnisse von Eigenart und Einzigartigkeit.

Die von Demenz Betroffenen leiden mit Sicherheit am Verlust des rationalen Bewusstseins und der damit unverbundenen zunehmenden Unfähigkeit, Spiegelung für ihre Persönlichkeit, für ihr Rollenspiel zu erwirken. Leiden sie vielleicht auch daran, dass wir in unserer eigenen Angst, unsere Spiegelung durch die erkrankte Person zu verlieren, weniger Verständnis für ihre Mitteilungen, die jenseits rationaler Kommunikation liegen, aufbringen können? Wir alle, so auch die Angehörigen von Demenzkranken, sind angewiesen auf Spiegelung: Auf Beachtung zur Daseinsbestätigung, auf Anerkennung unserer Leistungen, auf Bestätigung unserer guten Absichten, auf Würdigung unserer Bemühungen um den anderen und auf Resonanz. Angewiesen auf solcherlei Spiegelung leiden wir, wenn uns der andere immer weniger erkennt; wie das Kind, zu dem die Mutter sagt, so kenne ich dich gar nicht.

Das menschliche Gehirn ist – wie die Muskulatur oder der Darm – ein Ausdruck des Menschseins von vielen. Wem ein Arm fehlt, ist doch immer noch ein Mensch. Auch wenn einem wegen einer Krebserkrankung ein Stück Darm entfernt wird, ist man im allgemeinen Verständnis immer noch ein Mensch. Vielen Frauen dient die Brust zur Identifikation als Frau; so fragen sich manche nach der Amputation wegen eines Brustkrebses: "Bin ich ohne Brust noch eine Frau?" Ebenso könnte ein zunehmend dementer Mensch sich fragen: "Bin ich ohne rationalen Verstand noch ein Mensch?" Wenn wir René Descartes anhängen, jenem armen Menschen, der die Wahrnehmung seines Seins von seiner Denkfunktion abhängig machte und damit das Zeitalter der Entfremdung einleitete, müssen wir die Frage verneinen. Doch wir müssen Descartes nicht immer und ausnahmslos in die psychische Störung der Identifikation mit unseren Reflexionen folgen, die wir Narzissmus nennen. Wir können uns – manchmal – auf jene Momente in unserem Leben besinnen, in denen wir die Grenzen der durch gedankliche Definitionen definierten Alltags- oder Konsensus-Realität – der Welt, in der wir leben – überschreiten und vordringen in eine Wirklichkeit, die die Realität übersteigt und gleichzeitig umfasst: die Welt, von der wir sind.

Eine Theorie besagt, Alzheimer sei eine Degeneration bestimmter Hirnbereiche, bei der unter anderem die Orientierung in Raum und Zeit verloren geht. Wenn das eine Krankheit und nicht nur ein altersbedingter Rückgang von Funktionen ist: Ist dann die mangelnde Übung, einen inneren Raum und eine persönliche, an Schritt und Herzschlag und Atem gemessene Zeit wahrzunehmen, und die Gewohnheit, diese Wahrnehmung zu ersetzen durch die Uhr, auch eine Krankheit? Und sind all die vielen, die nur noch nachdenken, was sie selbst oder andere schon vorgedacht haben und mit Herrn Descartes ihr Dasein nur von Gedachtem und nicht auch von Erlebtem ableiten können, gesund?

Moderne Hirnforschung bestätigt Goethes Aussage, die Funktion unserer Organe entwickele sich mit ihrem Gebrauch, und sie beobachtet auch, dass unsere Organe verkümmern, wenn wir sie nicht gebrauchen. Daraus ergibt sich eine Reihe von Fragen:

Bekommen Menschen, die von Tag zu Tag, von Stunde zu Stunde, von Minute zu Minute immer wieder neue Lösungen für aktuelle Probleme finden müssen, wie zum Beispiel Obdachlose, seltener Alzheimer als gut Etablierte?

Gibt es ein gesellschaftliches Gefälle bei Alzheimer? Haben Arme, die sich mehr aktuelle Notlösungen ausdenken müssen als Reiche, weniger Alzheimer?

Gab es Alzheimer nach dem großen Krieg, als die Menschen keine Zeit zum Nachdenken hatten, weil sie damit beschäftigt waren, das Überleben zu sichern und ihre Behausungen neu aufzubauen?

Wie ist die Korrelation zwischen Fernsehkonsum und Demenz? Werden Fernsehsüchtige häufiger und früher dement als andere, die sich miteinander unterhalten, statt sich von imaginierten anderen unterhalten zu lassen?
Wo gibt es mehr Alzheimer? In der modernen Zivilisation, wo vor allem viel nachgedacht, abstrakt gelebt und Kunst produziert, gehandelt und konsumiert wird, oder in den alten, sogenannten primitiven Kulturen, wo situativ gedacht wird, wo die Menschen ihre Nahrungsmittel selbst jagen, sammeln und anbauen und noch selber malen, singen und tanzen?

Die Menschen in jenem Dorf an den Hängen des Vesuv, die im Durchschnitt sehr viel älter werden als alle anderen Europäer, weil sie – davon sind sie überzeugt – viel arbeiten und ihre Nahrungsmittel selbst anbauen: erkranken die an Demenz?

Abraham Maslow, der wachste Forschergeist unter den humanistischen Psychologen, beschrieb die sogenannten Gipfelerlebnisse gesunder Menschen als Zustände gesteigerter Präsenz, in denen sie aus der konditionierten Alltagsrealität in eine diese übersteigende und gleichzeitig umfassende Wirklichkeit vorstießen, in die Erfahrung von Zeitlosigkeit, unendlichem Raum und ausschließlicher Gegenwart, verbunden mit einem Gefühl tiefer Verbundenheit mit allem Leben, eine Wirklichkeit, die keiner Verifizierung oder Falsifizierung bedurfte. Ich bin versucht, diese Zustände als gesunde Demenz oder auch als transrationale Intelligenz zu bezeichnen. Könnte man dann im einen oder anderen Fall auch die krankhafte Demenz als Erlösung von der Normopathie verstehen, jener unseligen Neigung, unsere Eigenart zu verraten und unser Leben nach den Normen der anderen zu leben? Wenn sich die Persönlichkeit ein Leben lang an die Bedingungen der Umwelt angepasst hat: Könnte es nicht ein Krankheitsgewinn sein, dass sich die Welt den Bedingungen der Person anpassen muss?

Ich bin versucht zu sagen, dass Pfarrer Warns der Demenz die Befreiung des Künstlers in ihm verdankt. Ich stelle ihn mir als ein zeitlebens intelligentes, verlässliches, tüchtiges, dienstbereites und kulturbeflissenes Mitglied seiner Gemeinschaft vor. Vielleicht hat er die Demenz gebraucht, um seine so unkonventionelle wie überzeugende Gestaltungskraft zu befreien von den Restriktionen einer normierten Persönlichkeit.

Auch als Angehörige können wir von der Auseinandersetzung mit einer Person mit zunehmender Demenz einen Krankheitsgewinn haben. Sie gibt uns die Chance, die Reife und das Maß unserer Liebesfähigkeit zu erkennen: Lieben wir den anderen nur, wenn er so ist, wie wir ihn kennen und brauchen, oder lieben wir ihn, weil er oder sie gerade diese Person ist von Moment zu Moment – der Ausdruck einer einzigartigen Seele –, auch oder gerade dann, wenn sie uns nicht mehr auf die uns vertraute Weise antworten kann.

An dieser Stelle möchte ich ein Zitat wiedergeben, von dem ich nicht weiß, wo ich es her habe: "Der ist schon lange tot, der angepasst immer der gleiche war". Können wir die lieben, die von Tag zu Tag neu sind?

Ich möchte schließen mit einer Frage an Frau Warns: Liebe, sehr verehrte Frau Warns: Wen lieben Sie? Den, der Ihr Mann einmal war – ein Bild in Ihrem Kopf also – oder diesen Menschen, der in seinen Bildern zu Ihnen spricht – zu seinen Lebzeiten und auch noch heute?"