Zum Strukturwandel des Seelischen in der Postmoderne

Erscheinungsjahr:
2020
Autor/Autorin:

Wir danken Gustl Marlock sehr herzlich für diesen Beitrag.

Freud entwickelte bei dem Versuch, die Hysterie zu verstehen, eine Theorie, die vor allem in den metatheoretischen Überlegungen auf eine Kritik an der Viktorianischen Gesellschaft hinauslief. 

Die Symptome, mit denen sich die Freudsche Psychoanalyse herumschlug, nämlich hysterische, rigide und zwanghafte Charakterneurosen, spiegelt eindeutig die autoritäre, sexuell repressive Gehorsamkeitskultur des frühen 20. Jahrhunderts wider. Und die psychoanalytische Theorie hat die entscheidenden Stichworte zur Kritik der sexuell verklemmten Viktorianischen Gesellschaft geliefert. Nicht nur die Frauenbewegung, die am Anfang des 20. Jahrhunderts aufkam, bezog sich in ihren emanzipatorischen Diskursen weitreichend auf die Psychoanalyse. Auch die avantgardistische Kunst und Literatur und deren vielfältige Bewegungen zirkulierten um die Sexualität. Diese großen und umfassenden Inspirationen haben das letzte Jahrhundert entscheidend geprägt und die euro-amerikanische Kultur massiv in Richtung Freiheit verändert. 

Die therapeutische Zunft im engeren Sinn ist dem gegenüber auf dem kulturellen Auge und der Tatsache, dass psychisches Leid nicht unwesentlich durch die jeweilige Vergesellschaftung von Menschen bedingt ist, allerdings merkwürdig blind geblieben. Der Mainstream der Psychoanalyse hat schon früh die Perspektive verengt und die bürgerliche Kleinfamilie und ihre konfliktbeladene Dynamik im Dreieck von Vater, Mutter, Kind als wesentlichen Bezugsrahmen etabliert; vor allem innerhalb dieses Rahmens werden die Prägungen und Ursachen des Leids von Menschen gesucht, meist ohne einen weitreichenderen Blick, der die familiären Dramen, Tragödien und Komödien aus einem historisch-kulturellen Kontext heraus verständlich machen würde.     
 
Die in therapeutischen Kreisen eigentlich selbstverständliche psychoanalytische Neigung, alles Entscheidende in Bezug auf menschliche Entwicklung in der Kindheit zu verorten, führt unter anderem dazu, das Frühe und das Kindliche zu betonen und zu idealisieren – damit auch die Bedeutung der frühen Erfahrungen gegenüber der reiferen Selbst-Entwicklung. 
 

Wilhelm Reich entwickelte eine eigenwillige Interpretation der Freudschen Theorie, die stark gesellschaftsbezogen war und die die Institutionen der bürgerlichen Gesellschaft, wie die Kleinfamilie aber auch die Erziehung als ebenso von der jeweiligen Gesellschaftsform geprägt, beschrieb wie die individuellen, psychischen und charakterlichen Strukturen. In seinen visionären Entwürfen einer freieren Gesellschaft hat er einen romantischen Mythos von der ursprünglichen Natürlichkeit des Menschen und der kulturbedingen Entfremdung wiederbelebt, der noch immer auch im Rest der therapeutischen Welt sehr verbreitet ist.

Dieser Mythos geht in modernen Zeiten zumindest bis Rousseau zurück und wurde von einem französischen Admiral, Louis Antoine de Bougainville, der als erster im 18. Jahrhundert mit seinem Schiff auf Tahiti landete, berühmt gemacht. Bougainville bezeichnete die Südseeinsel als Garten Eden. Dem französischen Seefahrer begegneten Frauen, die einen ungebrochenen und naturverbundenen Eros verkörperten, der später noch einmal vor allem über Gauguin das frühe 20. Jahrhundert als Phantasma begeisterte. 
Wahrscheinlich hatten die einheimischen Schamanen Tahitis eine Intuition, wonach Anzeichen einer Degeneration des lokalen Genpools auf dessen Begrenztheit basierten. Also forderten sie die Frauen der Insel auf, die Fremden besonders freizügig und kopulationsfreudig zu empfangen. Die französischen Seeleute wähnten sich im Paradies. Der Traum dauerte drei Monate, dann schlug die Stimmung der Tahitianer in extreme Feindseligkeit um und Bougainvilles Schiff musste fliehen.
Was übrig blieb war die Blume, die Bougainville mitbrachte und die seither seinen Namen trägt – und das Buch, das er nach der Weltumsegelung schrieb und das in der damaligen Zeit eines der meist gelesenen Bücher war. Bougainville war Rousseaus Edlen Wilden tatsächlich begegnet.

In den therapeutischen Welten kann man Spuren des Edlen Wilden in dem sich regelmäßig heute noch unentfremdeten Kind, in der primären Persönlichkeit oder im ursprünglichen oder wahren Selbst finden. Wilhelm Reich hatte seine eigenen sexuallibertären Südseefantasien, sie stammten aus den Büchern des Ethnologen Malinowski und den von ihm beschriebenen Trobriandern. Reichs utopisch-therapeutisches Selbst zeichnete sich durch eine unblockierte, vitale Körperlichkeit, Emotionalität und Sexualität aus. Diese Figur hieß genitaler Charakter und wurde vor allem in den 70er-Jahren zu einem idealisierten Klischee, an dem ein Teil der nach-reichianischen Kreise für eine Weile in narzisstischer Selbstinszenierung hängen blieb. 

Die Fragen der Sexualität blieben bis in die 70er-Jahre des 20. Jahrhundert essenziell – vor allem in den eher progressiven therapeutischen Kreisen und haben sich seit Anfang der 80er-Jahre auf sonderbare Weise verflüchtigt. Dies fiel weder auf noch wurde es weitreichender kommentiert. Das Verschwinden des Eros aus den therapeutischen Gefilden heißt aber nicht notwendigerweise, dass die Fragen und Herausforderungen, die Eros stellt, inzwischen beantwortet oder erledigt wären.

Der Wandel hin zur Postmoderne
Gegenwärtig finden wir uns in einer wirklich anderen gesellschaftlichen und kulturellen Situation wieder. Die Koordinaten, innerhalb derer sich die theoretischen wie praktischen Fragen unserer Profession stellen, sind verschoben. 
 
Die Postmoderne ist keine Gehorsamskultur mehr, auch wenn neo-autoritäre Figuren wie Erdogan, Gauland oder Le Pen diese gerne wieder hätten. Sie ist eher eine Kultur, die Freiheit, Individualität und Glück verspricht. Ihre propagierten Ideale bestehen nicht auf autoritärer Unterwerfung und Anpassung, sondern auf der Ausschöpfung aller Möglichkeiten und Erfüllung aller Wünsche, frei nach dem Motto eines Jimmy Cliff Songs, der heißt: "You can get it if you really want." Die Frage, warum wir alles bekommen sollten, beantworten die jungen Zeitgeist-Geeks in den Werbeagenturen folgendermaßen: "Weil du es verdienst." oder "Weil du es dir wert bist."
 
Sowohl die Ökonomie als auch die Weltanschauung der Postmoderne sind geprägt von dem, was wir als Neoliberalismus bezeichnen. Der Neoliberalismus beinhaltet eine Propaganda, wonach sich die Glücksversprechen durch freie unbehinderte Märkte und unbegrenztes Wirtschaftswachstum realisieren. Ronald Reagan und Margaret Thatcher waren die beiden zentralen Geburtshelfer einer Wirtschaftsordnung, die ohne wohlfahrtsstaatliche Einschränkung das Haben-Wollen zur obersten Maxime erklärt hat. 
 
Zu dieser Freiheit des Marktes gehören freieselbstverantwortliche Individuen, die sich durch Individualität, Eigenverantwortung und vor allem ein hohes Maß an Leistungsbereitschaft auszeichnen. Für dieses postmoderne Individuum haben Soziologen und Philosophen verschiedene Metaphern geprägt. Der Franzose Alain Ehrenberg spricht vom Unternehmerischen Selbst und Michel Foucault vom Homo oeconomicus. 
Der deutsch-koreanische Philosoph Byung Chul Han ist einer der Autoren, der in seinem Buch über die Müdigkeitsgesellschaft (Burnout Society) die symptomatischen Folgen des erhöhten Leistungsdrucks und Erfolgszwangs skizziert hat. Wie zu Zeiten Freuds manifestiert sich der unbewusste Zusammenhang zur gesellschaftlichen Struktur auch bei dieser Symptomlage über den Körper, aber im Gegensatz zur Hysterie nicht als Explosion, sondern als somatische Implosion; in den unteren Schichten meist als depressiv colorierte schwere Psychosomatosen, wo das Elend und der Schrei nach Hilfe über die schwer verständliche Organsprache nicht hinauskommt. In den erfolgreicheren, smarten, oft auch therapeutisch gebildeten Etagen der postmodernen Gesellschaft spricht man weniger klinisch-pathologisch und mehr hip vom Burnout. Es wurde eine Lifestyle Begrifflichkeit gefunden, die signalisiert, dass man nicht zu den unteren Schichten der Erfolglosen gehört, die in den Medien lange als potenziell faul, parasitär oder erfolgsunwillig denunziert wurden. Wer ausbrennt, muss vorher zumindest heiß gebrannt und sich verausgabt haben.
 
Eine zweite Kategorie symptomatischer Manifestationen, in denen der Geist der Zeit durchschimmert, sind die weitverbreiteten sogenannten Panikattacken und generalisierten Angststörungen. Im Gegensatz zu den Phobien enthalten diese Angstzustände kaum noch klassische Konflikte. Die den Phobien eigene Konflikthaftigkeit zwischen triebhaften Wünschen und unbewusster Hemmung konnte man noch per Deutung aufspüren. Die postmodernen Angstsymptome enthalten kaum noch Symbolisierungen, auch keine biografischen Implikationen, sondern bleiben amorph und diffus atmosphärisch wie der Nebel, der sich in den alten Hitchcock Filmen überall ausbreitet. Einige kluge Sozialpsychologen, wie Oliver Nachtwey, haben die massive Zunahme von Angst, auch der besser situierten Kreise, mit der allgegenwärtigen Bedrohung vor Verlust von Arbeit und sozialem Abstieg in Verbindung gebracht. Die unkontrollierbare Dynamik einer Wirtschaftsordnung, die nur auf Profitraten ausgelegt ist und die die Individuen für eine ersetzbare Größe hält, unterminiert die Sicherheiten von Menschen in Bezug auf Lebensplanung und Zukunft fundamental.   
 
Menschen fürchten sich zu Recht davor, aus den Erfolgskreisläufen des Neoliberalismus herauszufallen und zu unverwertbaren Menschen zu werden. Big Data Firmen wie Axiom, die circa 300 Millionen Amerikaner aufgrund ihrer Datenprofile in verschiedene Kategorien einteilt und weiter verkauft, bezeichnet Menschen mit niedrigem ökonomischen Wert als waste (Müll). 
Um nicht als Müll zu enden, sind Menschen mehr als bereit, sich für die Arbeits-Bildungs-und Beziehungsmärkte und die postmodernen Leistungs-Arenen in shape zu bringen. Die Vereinnahmung des Körpers durch den neoliberalen Zeitgeist zeigt sich in der inzwischen allumfassenden Präsenz von Fitnesskulten.  
   
Fitness ist eines der neoliberalen Zauberworte, zeigt es doch die hohe Bereitschaft von Individuen, sich dem verschärften Leistungsprinzip unterzuordnen und das Durchhaltevermögen und die Willenskraft zu stärken. 
Die gesellschaftliche Vereinnahmung geht allerdings noch tiefer. Sie verlangt außer nach fitten auch nach begeisterungsfähigen Individuen. Der neoliberale Kontext begnügt sich nicht mit der schlichten Ausbeutung der Arbeitskraft, sondern diese muss auch ihre emotionalen, vitalen, kreativen Ressourcen mobilisieren. Dazu gehört auch ihre erotische Ausstrahlung. Diese zählt auf den Märkten viel. 

Fitness, High Energy, Eros und die glückliche Leichtigkeit des Seins haben als Ich-Ideal, das klassische, depressiv-miserabilistische Über-Ich, abgelöst. Freud hatte ja bekanntlich noch darauf bestanden, dass Glück im Plan der Menschheitsgeschichte nicht vorgesehen ist. Dies hat sich vollkommen ins Gegenteil verkehrt. Glück wird heute zur obersten Maxime. Heiterkeit und Frohsinn als Ausdrucksform von glücklichen Menschen sind tief in den normativen Systemen des kulturellen und individuellen Unbewussten und in den affektmotorischen Schemata verankert. Emotionshistoriker wie Peter Stearns haben darauf hingewiesen, dass diese Entwicklung beim Übergang in die konsumistische Phase des Kapitalismus vor allem in den USA am Anfang des 20. Jahrhunderts beginnt. Zum Glück des Konsums passt eine heitere und sonnige Gemütslage besser. Sie ist von den meisten postmodernen Zeitgenossen so grundlegend körperlich automatisiert. Das können Sie an jeder beliebigen Talkshow wahrnehmen.          

Damit das postmoderne Individuum es auf die Höhe dieser gesellschaftlich fabrizierten und über die verschiedenen Medien propagierten Ich-Ideale bringt, stehen ihm milliardenschwere Dienstleistungsbranchen zur Verfügung. Fitness und bis in die tiefsten Tiefen des Körper reichende kosmetische Korrekturen spiegeln einen radikalen Selbstoptimierungsgeist wider. Die Postmoderne hält bisher nie gekannte Möglichkeiten bereit, den Körper zu designen. Er wird zum Rohmaterial für Selbstdesign und Selbstoptimierung.   
Die Vorlagen für die idealisierten und narzisstischen Selbst-Körperbilder werden permanent in Form von Myriaden von Bildern durch die Propaganda der Werbeagenturen, Lifestyle Magazine und inzwischen auch von virtuellen Influencer über uns ausgeschüttet. Sie infiltrieren die menschliche Psyche ohne Passierschein. 
 
Während das alte Über-Ich im Kontext der Unterwerfungsrituale patriarchalischer Familienverhältnisse internalisiert wurde und Möglichkeiten der Auflehnung und des Widerstandes bot, vereinnahmen die postmodernen Ich-Ideale Menschen viel grundlegender, weil sie die libidinösen Wünsche der Individuen ansprechen und statt dem christlichen Himmel ein maßloses Glück im Diesseits versprechen.
 
In der Frühzeit der Entwicklung der dynamischen Systemtheorie und der Management-Kybernetik hat man – ganz verwertungsbezogen – auch daran geforscht, wie weitgehend lebendige Systeme beeinflussbar und steuerbar sind. Dafür wurden zum Beispiel Wasserflöhe mit feinsten Eisenspuren gefüttert. Die metallisierten Flohschwärme konnten mithilfe von Magneten an einen gewünschten Ort gelenkt werden – danach wurden sie wieder ihrer Eigenregulation überlassen. Die Koppelung von subtiler Beeinflussung und Lenkung einerseits und zumindest konsumistische Eigenregulation von Menschen andererseits charakterisiert auf grundlegende Weise die Postmoderne. Jenseits eines bestimmten Maßes von Fremdmanipulation gehen die Wasserflöhe zugrunde. So weit ist es bei Menschen noch nicht. 
 
Vielleicht weil die menschliche Psyche sich die internalisierten Ideal-Bilder von selbst durch ein hohes Maß an Identifikation zu eigen macht und dem Versprechen aufsitzt, durch Selbstdesign und Selbstoptimierung all die Wertschätzung, Liebe und das Glück, das man nicht hat, zu bekommen. 
 

Am allerwichtigsten aber scheint es mir zu verstehen, dass das postmoderne körperliche Selbstdesign das nicht hergibt, was es verspricht. Manchmal, weil es einfach im Pfusch endet. Meistens aber, weil das, was eigentlich gesucht wird, nämlich ein bestimmtes Selbst- und Lebensgefühl, sich nicht oder nur kurzfristig einstellt. Wenn ich so aussehe oder mich so inszeniere wie die durchgestylten und fotogeshopten Ikonen der Postmoderne, heißt das noch lange nicht, dass ich mich auch so fühle. 

Im Gegenteil, die Orientierung an visuellen Körperbildern oder Imagines unterminiert den fühlenden Kontakt und Selbstbezug; Bild und Selbstgefühl verhalten sich im gegenwärtigen kulturellen Kontext wie Antagonisten. Wir spüren das, wenn wir narzisstische Inszenierungen als künstlich oder hohl erleben. 

Design kann Objekte gestalten, unser Gefühl als basale Ausdrucksebene unseres spontanen und subjektiven Selbst- und Weltverhältnisses lässt sich darüber offensichtlich nicht grundlegend manipulieren. Darin dürfte der Grund liegen, weshalb plastisch-chirurgische Selbstdesigner oft zu Serientätern werden und auf diesem Weg an die Grenze der Selbstverstümmelung gehen. 

An Michael Jackson, eine der tragischsten Ikonen der Postmoderne, konnte man die tragische Verwandlung eines begabten und tiefgründig leidenden Jungen in eine frankensteineske Figur verfolgen.
Was man an Michael Jackson und den vielfältigen zum Teil grotesken Formen von Selbstdesign via plastischer Chirurgie manchmal im Extrem sehen kann, ist keine schrille Ausnahme, sondern ein Grundzug der neuen postmodernen Symptomlagen. Klassische neurotische Symptome hatten, wenn sie den Körper involvierten, meist einen hemmenden Charakter. Die postmodernen Symptome dagegen, darauf hat der belgische Psychoanalytiker Paul Verhaeghe hingewiesen, sind meist performative Symptome; nicht im theatralischen Sinn, sondern in dem Sinn, dass sie Handlungen meist ungehemmter Natur beinhalten. Verhaeghe macht uns nochmal darauf aufmerksam, dass der alte freudianische Neurotiker endlos in einem konflikthaften, seelischen Innenraum von Dingen träumte, die er zu tun wünschte und meist nicht tat. Sein zeitgenössischer Nachfolger träumt nicht mehr, sondern er zieht es vor, zu handeln. Ein Großteil seiner Handlungen ist direkt und ohne Hemmung auf den Körper ausgerichtet; sei es der eigene Körper wie bei den Essstörungen oder den verschiedenen Formen von Selbstverletzung und -verstümmelungen, sei es der des anderen bei gewaltsamer Aggression oder chronifizierter Promiskuität. 
 

Der Hinweis auf die Ungehemmtheit der Symptome deutet auf einen grundlegenden Mangel an selbstregulatorischen Fähigkeiten und einem unentwickelten Vermögen zur Selbstbegrenzung hin. Dieser Aspekt zeigt sich am deutlichsten bei den weit verbreiteten Süchten und den sogenannten Borderlinestörungen und ihrem oft grenzenlosen Acting-out. Wilhelm Reich hat dies in einer aus dem Jahr 1925 stammenden und völlig übersehenen Schrift über den triebhaften Charakter vorskizziert. Er spricht von einem "primitiven Lustselbst", das sich aufgrund "grober Defekte in der Ich-Struktur" in einem permanenten Kampf mit der Umwelt befindet oder diese sich einverleiben möchte. Verhaeghe spricht in Bezug auf dieses durchbrechende primitive Lust-Ich von einer strukturellen Unfähigkeit die Triebe, Wünsche und Affekte durch Repräsentationen zu regulieren. Damit ist folgendes gemeint: Im Idealfall hilft die Mutter bei der Regulation der Vitalitätsaffekte dadurch, dass sie vor allem schwierige Selbst- und Gefühlszustände des Kindes nicht nur spiegelt, sondern über ihren Gesichtsausdruck und ihre Stimme in modulierter, beruhigter Form zurückgibt. Lacan spricht hier von Spiegelung, Stern von Attunement und Fonagy von markierter Spiegelung. Diese Interaktionen bilden den Kern von symbolischen inner-psychischen Repräsentationen des Selbst und der Objekte, die später dabei helfen, auch schwierige und primitive Trieb-, Affekt- und Selbstzustände zu regulieren.   

Auch aufgrund ihrer hedonistischen und gefühlsexpressiven Ausrichtung hat die Körperpsychotherapie diesen Überlegungen Reichs, die neben dem Triebschicksal auch die Ich-Entwicklung im Blick hat, wenig Beachtung geschenkt.  
Die traditionelle Version der Körperpsychotherapie basierte noch auf Freuds Vor-Ich-psychologischer, somatobiologischer Theorie, wonach neurotische Symptome und Angst aufgrund einer Hemmung der sexuellen Impulse und Affekte und daraus folgender aufgestauter Sexualspannung, später einfach als Energie bezeichnet, entstehen. Nichts ist fataler, als aufgrund von Stauungsvorstellungen zum Beispiel Borderline-Patienten zum Ausdruck ihrer Affekte zu ermuntern, die sie meist ungehemmt in Beziehungen oder an sich selbst ausagieren. Sie sind es nicht gewohnt, ihre affektive Erregung zu modulieren und sind meist – wie Masterson das beschreibt – mit einem "wertlosen", "verdorbenen" oder "bösen" Partialselbst identifiziert, mit dem sie in Beziehungen triumphal kokettieren und es zur Abwehr eines davon dissoziiertem hilflosen und abhängigen Partialselbst benutzen. 
 
Viele der postmodernen Patienten schaffen es gar nicht mehr auf die Höhe eines inneren neurotischen Konfliktes, weil sie ihre innere Spannung nicht halten können oder wollen. Die meisten der symptomatischen Handlungen und Inszenierungen haben vor allem die Funktion, Spannungszustände regressiv loszuwerden. Auch Körperpsychotherapie hätte ihnen dabei zu helfen, ein bestimmtes Maß an Selbstgespür und Selbsthaltefähigkeit überhaupt erst zu entwickeln.    
Die postmoderne Ökonomie allerdings profitiert von Individuen, die ihre Spannungen nicht aushalten können oder wollen, sondern wie gesteuert von dem primitiven Reichschen Lust-Ich nach unmittelbarer Triebabfuhr und Befriedung suchen. Vor allem im Konsum finden postmoderne Zeitgenossen eine Sphäre unmittelbarer Triebbefriedigung und Regression. Die Glückseligkeit des Konsums dirigiert die Massen weltweit durch die Shoppingmalls, die wie Variationen des zur Wirklichkeit gewordenen Schlaraffenlands erscheinen. 
 
In den von Hungersnöten inspirierten mittelalterlichen Vorlagen des Schlaraffenlands flossen Milch, Honig oder Wein in den Flüssen und durch die Luft flogen vorgegarte, mundfertige Tiere, Hühner und Schweine. Heute sind Milch, Honig und die Schweine durch digitales Luxusspielzeug, Fashion ohne Ende, Autos und teure Accessoires, wie Luxusuhren oder personalisierte Brieftaschen von Louis Vuitton, ersetzt. Die egozentrisch-luxuriöse Kultur des Alles-Habens und der gelungenen Selbstinszenierung, die den postmodernen Lifestyle und die dazugehörige Psyche prägt, hat in Europa ein wichtiges Datum: den 7. Juni 1654.
An diesem Tag wurde Ludwig XIV. in der Kathedrale von Reims gekrönt. Mit dem Sonnenkönig wird der gehobene repräsentativ-narzisstische Lebensstil, der die Postmoderne kennzeichnet, zum ersten Mal hoffähig. Ludwig XIV. eignet sich meines Erachtens wesentlich eher als Archetypus der narzisstischen Epoche als der schöne aber spröde und beziehungsunwillige Jüngling aus der griechischen Mythologie. Dieser verliebte sich bekanntlich ja nur aufgrund einer der üblichen Bestrafungslaunen der olympischen Götter in sein Ebenbild, das er im Wasser eines Sees erblickte.  
 
Vieles, was wir in der Postmoderne als Ingredienzen eines gelungenen Lebensstils und Hochgefühls feiern und genießen, entsteht während der Herrschaft des Sonnenkönigs und macht Paris zur Lifestyle-Metropole Europas. Unter den neuen Berufen, die entstehen, sind es vor allem die Coiffeurs oder Hairstylisten, die eine bis dahin unbekannte Berühmtheit erlangen. In Paris entstehen die ersten Modeboutiquen, in denen, natürlich kalkuliert, hübsche junge Frauen bedienen; die ersten Vorläufer der periodischen Modejournale erscheinen und der Champagner, bis heute das Nationalgetränk aller erfolgreichen, narzisstischen Kreise, wird erfunden. Weil es möglich wird, Stoffe, Teppiche und Möbel aus der ganzen Welt zu importieren, kauft die Elite Europas in Paris das, was wir heute als Interieur-Design bezeichnen und lieben. Das für alle Narzissmus-Spiegeltheoretiker wohl wichtigste Detail dieser Geschichte dürfte darin liegen, dass bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts Spiegel nur in der Größe einer Postkarte hergestellt werden konnten. Aus Venedig abgeworbenen und geflüchteten Spiegelmachern gelang es in Versailles zum ersten Mal, Spiegel in vielfacher Vergrößerung herzustellen.  
Der Spiegelsaal von Versailles ist nur der konzentrierteste Ausdruck davon, wie Ludwig seine Größe und seinen Glanz im äußeren gespiegelt sehen wollte; in seinem Schloss, seinen attraktiven Mätressen, seinen Künstlern und Spektakeln, die er in Versailles organisieren ließ. Ludwig XIV. und Versailles beinhalten starke Anspielungen und Hinweise an die postmoderne Situation und die Art und Weise, wie sich Politiker, Firmen, aber auch singuläre Individuen klassenübergreifend heutzutage inszenieren. In unseren narzisstischen Anteilen sind wir offen oder versteckt allesamt Ur-Urenkel des Sonnenkönigs, also royale Persönlichkeiten; auch wenn im Gegensatz zu Ludwig die Kulissen der Selbstinszenierungen, die in medialer Form Selfies heißen, den Protagonisten, die auf den Selfies für den Moment einer Fotosekunde ins Zentrum eines Privatuniversums geraten, nicht selbst gehören. 
 

Kommen wir zurück zum therapeutischen Terrain. Was es für die Psychotherapie in Bezug auf den Narzissmus zu verstehen gilt ist, dass sich der narzisstische Persönlichkeitsstil durch ein hohes Maß an Abhängigkeit oder anders formuliert Unabgelöstheit auszeichnet. Unter seiner pseudounabhängigen Oberfläche ist er vor allem darauf aus, von den anderen, psychoanalytisch gesprochen den Objekten, bestätigt, bewundert oder auch beneidet zu werden.

Die Wurzeln des narzisstischen Stils reichen zurück in eine entwicklungspsychologische Phase, die Margaret Mahler als psychische Geburt des Kindes bezeichnet hat. Mahler ist für einen Teil ihrer Theorie zu Recht kritisiert worden, weil sie die ersten beiden Phasen der frühen Kindheit im Einklang mit der damaligen psychoanalytischen Theorie als symbiotische Phasen beschrieben hat. Vor allem die Studien von Stern haben darauf hingewiesen, dass schon sehr früh kommunikative Differenzierungen stattfinden und dass die Entwicklung des Selbstempfindens bis weit in die frühe nonverbale Phase zurückgeht.
Dennoch finde ich, dass in dem Perspektivenstreit Mahler/Stern das Kind mit dem Bad ausgeschüttet wurde. 
Mahlers Individuations- und Separationstheorie, die sich mit der späteren Entwicklungsphase des nicht mehr Säuglings, also etwa dem 12. bis zum 36. Monat, beschäftigt, halte ich für einige zentrale Fragestellungen nach wie vor für eine wichtige Quelle.  
Kurz skizziert beschreibt Mahler eine Entwicklungsphase, die ganz wesentlich über die Entwicklung körperlicher Vermögen eingeleitet wird. Das Kind erlebt über die zunehmende Meisterung seiner motorischen Fähigkeiten nicht nur Hochgefühle, sondern erwirbt auch ungekannte Möglichkeiten, den Abstand zwischen sich und der Mutter als zentralem Anderen zu bestimmen und zu verändern. Die Erfahrung gesteigerter Selbstwirksamkeit und Selbstzuschreibung von gelungenen Handlungssequenzen hinterlassen in dem Kind starke Glücks- und auch Omnipotenzgefühle. 
Allerdings ist dieser Prozess alles andere als einfach und konfliktfrei. In Mahlers Beschreibung der Wiederannäherungskrisen sind die vielfältigen verunsichernden Erfahrungen des Kindes eingefangen und die Notwendigkeit, sich immer wieder an die Mutter anzulehnen und rückzuversichern. Die Erfahrung der zunehmenden Differenzierung und Separation kann ganz plötzlich umschlagen. Dann ändert sich die Stimmung der gerade noch heldenhaften und frechen Kleinen von einem Moment zum anderen, die Mundwinkel zeigen nach unten und große Kullertränen deuten an, dass jetzt gar nichts mehr geht.  
 
Die Oszillation zwischen Separation und Wiederannäherung, wenn sie von einer ausreichend sicheren und verständnisvollen mütterlichen Präsens begleitet wird, ist wesentlich für die psychische Ausbildung von Objektkonstanz. Damit wird eine psychische Ich-Leistung bezeichnet, die in der Fähigkeit besteht, eine konstante Vorstellung vom Liebesobjekt über Trennung und wechselnde Stimmungen hinweg zu erhalten. Darüber hinaus beschreibt man mit Objektkonstanz auch die Fähigkeit, kohäsive, nicht gespaltene psychische Repräsentationen zu entwickeln, die gute und schlechte Partialrepräsentanzen des Selbst und der Objekte zusammenhalten können.   
Dieser Entwicklungsprozess ist auf keinen Fall eine sanfte Geburt, sondern krisenhaft und schwierig für alle Beteiligten, auch weil sich im Kind, so wie es sich für eine gute Autonomieentwicklung gehört, ein eigener Wille ausbildet und es diesen übt und die Umgebung damit herausfordert. 
 
In Bezug auf die narzisstische Dynamik kann man davon ausgehen, dass eine Fixierung auf Hoch- und Potenzgefühle übrig bleibt und sich im psychischen Innenraum ein sogenanntes narzisstisches Größenselbst herausbildet. 
An dieser Stelle muss man genau hinhören, um den Catch 22 zu erfassen. Wir sprechen ab dieser Entwicklungsstufe vornehmlich nicht mehr von einer Entwicklung im Körperlichen, sondern von einer psychischen Entwicklung: dem Aufbau und der Integration von Selbst und Objektrepräsentanzen, von defensiven psychischen Strukturen wie dem Größenselbst, von Selbstbildern, dem Ich-Ideal und dem Über-Ich – also letztendlich von einer dynamischen psychischen Struktur, die Freud als psychischen Apparat bezeichnet hat. Deshalb hat Margaret Mahler in ihrem Buchtitel auch nicht von einer zweiten Geburt gesprochen, sondern von der psychischen Geburt des Menschen. Zum Kern dieser Struktur wird das Ich oder Selbst, das nicht nur innere und äußere Anforderungen wie die sogenannten Triebe und die Anforderungen der äußeren Realität vermittelt, sondern es wird darüber hinaus zunehmend zu einer psychischen Konstanten und führt zu dem Empfinden, in jeder Situation die gleiche Person zu sein. Am Ende der zweiten Lebensdekade, wenn sich diese Empfindung verfestigt, entsteht das, was in der Psychoanalyse Ich-Identität heißt – und ab da glauben wir zu wissen, wer wir sind.  
 
Die psychische Struktur, die sich aus dem Körperselbst heraus entwickelt, sondert sich im Lauf der kindlichen Entwicklung immer mehr von dem Körper ab und überlagert diesen. Dieses psychische, mentale Selbst wird dann zunehmend zum primären Referenzpunkt im Selbstverhältnis von Menschen. Über die vielfältigen, meist nur impliziten Bilder, Vorstellungen und Repräsentationen darüber, wer und wie wir sind, wie wir sein sollen oder wollen und wer wir nicht sein sollen oder wollen, werden Teile des spontanen, vitalen und emotionalen Körperselbst abgewehrt, unterdrückt oder dissoziiert. Die unbewusste Ich-Abwehr bedient sich dabei interessanterweise auch der willkürlichen und unwillkürlichen Körpermuskulatur. Die partielle Dissoziation vom Körperselbst und deren weitreichenden Folgen hat Fritz Perls am deutlichsten erfasst. Er hat darauf hingewiesen, dass am Ende Löcher in der Person übrig bleiben, die sowohl im Erleben der Patienten als auch in den Darstellungen projektiver Diagnostik zum Ausdruck kommen. Dann haben wir es mit Individuen zu tun, die in ihrem Erleben keine Beine haben und mit der Einschränkung ihrer Selbstständigkeit bezahlen. Manche haben kein Rückgrat, manche keine Ohren und können nicht zuhören. Wenn Menschen an der Stelle ihres Herzens ein Loch verspüren, dann sind sie davon überzeugt, dass es keine wirkliche Liebe in der Welt gibt oder diese zu schwach ist.  
 
Der Verlust des vitalen Körperselbst führt dazu, dass wir am Ende dann oft ganz Kopf sind und einen Körper haben, wie die Leibtherapeuten sagen. Dann brauchen wir eine Krise und einen entsprechenden Therapeuten, um den verlorenen oder funktionalisierten Körper wieder zurückzugewinnen.
Was das bedeutet, will ich am Ende anhand einer kurzen Fallvignette erläutern. Sie eignet sich gut dafür, einige prinzipielle Aspekte herauszustellen, die den Reassoziationsprozess des Körperlichen kennzeichnen. Man kann an der Vignette sehen, der Prozess ist wenig spektakulär, auch nicht übermäßig laut, kommt also nicht emotional-expressiv daher und gründet dennoch fundamental auf einer Textstelle in Wilhelm Reichs Oeuvre, die ich für eine seiner Wichtigsten halte.
 
In einem Kapitel der späteren Ausgabe der Charakteranalyse mit dem Titel Psychischer Kontakt und vegetative Strömung beschreibt er, dass bei der charakterlichen Panzerung zu den verdrängten Triebregungen und den verdrängenden Abwehrkräften ein drittes Phänomen hinzukommt, welches er als Kontaktlosigkeit bezeichnet. In ihr kommt ein bestimmtes, oft oberflächlich kaschiertes Maß an Beziehungslosigkeit des Patienten mit sich selbst und seiner Umwelt zum Ausdruck. In Bezug auf das eigene Selbst äußert sich diese Kontaktlosigkeit als Gefühllosigkeit, als innere Vereinsamung oder inneres Abgestorbensein. Reich bringt diese Kontaktlosigkeit mit dem Begriff der Dissoziation in Verbindung. Existenziell gesehen äußert sich diese Kontaktlosigkeit, die wir mit gutem Grund als Entfremdung bezeichnen können, im Selbstverhältnis und nicht im Verhältnis zu irgendeiner Ursprünglichkeit.
 
In sogenannt methodischer Hinsicht beruht der Prozess der Reassoziation des vital-emotionalen Körperselbsts darauf, dass man dem Patienten dabei hilft, die Fähigkeit und Bereitschaft zu entwickeln, die eigene emotionale Realität wahrzunehmen, anzuerkennen und zu tragen. Über die dafür notwendige Haltefähigkeit muss nicht nur der Therapeut verfügen, sondern sie muss auch vom Klienten gelernt werden. Wilfred Bion hat diese Fähigkeit als Containment bezeichnet. 
In therapeutischer Hinsicht kommt es darauf an, respektvoll, aber kontinuierlich auf die verschiedenen Formen körperlicher und psychischer Ich-Abwehr aufmerksam zu machen und diese zu explorieren – und die als Zunahme von Selbstkontakt erlebte Reassoziation der körperlich-emotionalen Subjektivität zu fördern. 
 

Die Patientin der Vignette, eine junge Kanadierin, kam wegen starker Panikattacken. Sie war hübsch, intelligent und erfolgreich, alles weit über dem Durchschnitt. Sie hatte, so sagte sie, eine glückliche Kindheit und immer noch eine enge Verbindung zu ihren Eltern. Sie hoffte, ihre Symptome so schnell wie möglich wieder zu verlieren. Ich verspürte wenig Neigung, mich an ihren Symptom- und damit partiellen Selbsteliminierungsversuchen zu beteiligen. Es ist durchaus möglich und begründet, Symptome für unverständliche aber intelligente Mitteilungen des Organismus an das Selbst aufzufassen, so, als ob uns jemand in einer fremden Sprache sagen wollte: "Something wrong."

Ich bestand darauf, dass symptomatischen Mitteilungen dechiffrierbar wären. Da Panikattacken in Ermangelung jeglicher Symbolisierung nicht klassisch-analytisch gedeutet werden können, schlug ich ihr vor, darauf zu achten, wann und wo diese auftraten. An mehreren Beispielen wurde deutlich, dass sie in allen Situationen etwas tat, was sie eigentlich nicht tun wollte. Diese Einsicht erweiterte ihre Regulationsmöglichkeiten. Allerdings wurde ihr daraufhin langsam und schmerzlich bewusst, wie sehr ihr ganzes Leben von Anpassung, vor allem an die Erwartungen ihrer Eltern, geprägt war. Solch grundlegende – Hilarion Petzold nennt sie – vitale Evidenzerfahrungen setzen eine Lockerung der Ich-Abwehr gegen den emotionalen Körper voraus. Die Gefühle, die in diesen Zusammenhängen auftreten, können stark und tief sein – sind aber keine entladungswürdigen Energiemengen, sondern eher intelligente Signale, die sich spontan, nicht forciert, von selbst äußern und an das mentale Selbst gerichtet sind. Wenn dieses mentale Selbst sich von ihnen informieren oder inspirieren lässt, kann das auch zu Handlungen führen. Diese sind oft durch eine nicht reaktive Qualität und eine grundlegendere existenzielle Rationalität und Reife gekennzeichnet. 
 
Je mehr die Klientin ihre Wünsche nach Abgrenzung und Eigenständigkeit spürte, nahmen die Telefonate mit ihren Eltern ab. Das Symptom begann, sich in ein reales Problem zu verwandeln und die Situation eskalierte. Ihre Mutter, die "immer für ihre Tochter gelebt hatte" und nun auf einen cholerischen Mann zurückgeworfen war, wurde schwer depressiv. Der Vater attackierte die Klientin zunehmend in bösartiger Weise.
Das Märchen von der glücklichen Kindheit begann zu zerbröseln, sie erinnerte sich an den Herrschaftsanspruch und die narzisstische Wut ihres Vaters. Die Vergangenheit, die hier in einem existenziell gegenwartsorientierten therapeutischen Dialog auftaucht, braucht keine analytische Rekonstruktion, auch kein gutes Ende. Es handelt sich um manchmal sehr schmerzhafte Einsichten in das, was war, in eine Wirklichkeit, die nicht zu ändern ist, die ertragen und getragen werden will und auch kann.
 

Die vitale und existenzielle Stärke, die sich hierbei entwickelt, kommt nicht aus zerdroschenen Tennisschlägern, sondern aus der vitalen Tiefung, die das Selbst erfährt, wenn es den emotionalen Körper und damit ein großes Stück auch schwieriger Wirklichkeit zurückgewinnt und als zum Selbst gehörig anerkennt. Dann haben wir keinen Körper mehr, sondern sind Wesen, deren Selbstgewahrsein Geist und Körper integriert und dann in einem Reifungsprozess lernen, eine ganze Reihe von existenziellen Polaritäten, wie gut und schlecht, leicht und schwer, Glück und Unglück, als zum Leben gehörig anzuerkennen; dies schließt auch die letztendliche Unergründbarkeit und Unverfügbarkeit der menschlichen Existenz mit ein. 

Eric Erickson, der psychoanalytische Gründungsvater einer noch in Kinderschuhen steckenden Entwicklungspsychologie des erwachsenen Alters, hat als Erster auf die Möglichkeit einer reifen Integration des Körper-Geist-Verhältnisses hingewiesen und diese Erfahrung als zentaurisch bezeichnet. Ken Wilber hat das Motiv des Zentauren aufgenommen, um die humanistisch-existenziellen Psychotherapieformen zu kennzeichnen. Ihr gemeinsamer Nenner besteht nach Wilber in dem Ziel, authentische Selbstaktualisierung zu ermöglichen. Es handelt sich um eine Selbstaktualisierung, die in der Gegenwärtigkeit des Hier und Jetzt und nicht auf der therapeutischen Kindheitsbühne stattfindet; sie ist nicht darauf ausgerichtet, ein verbessertes oder optimierteres Selbst oder ein narzisstisches Imago zu verkörpern, sondern eine Form des Daseins oder der Präsens, die die Tiefe und Vitalität des Körpers und die potenzielle Klarheit und Intelligenz des menschlichen Geistes gleichwertig als Erfahrung beinhaltet.

Eines Tages nach einer längeren Phase unglücklicher Einblicke und Trauer um ihr ungelebtes Leben, erzählte die Patientin, dass sie einen jungen Mann gesehen hatte, der Dreadlocks hatte und einen ungewöhnlich aufrechten Gang. Sie war offensichtlich fasziniert von ihm. Der junge Mann verkörperte wahrscheinlich ein bestimmtes Maß an Freiheit, Autonomie und einen aufrechten Gang im Bloch'schen Sinn, jenseits der erfolgreichen postmodernen Glitzerwelt, für die sie sich früher geopfert hatte. Wolf Büntig pflegt an dieser Stelle zu sagen, dass das menschliche Potential manchmal Vorbilder braucht, um zu erwachen. Sie kündigte jedenfalls irgendwann ihren hochdotierten Job, lebte von einer großen Abfindung eine Zeit lang in den Tag hinein und war entschlossen, solange zu suchen, bis sie etwas in ihrem Leben finden würde, das ihr wirklich entsprach. Ich sah sie nach dem Ende der Therapie zufällig mit ihren zwei Kindern. Sie sah nicht unglücklich aus.