Ein Aufsatz – ursprünglich als Vortrag gedacht – aus dem Jahr 1990
Alljährlich kommen die Gestalttherapeuten der Region zu den Münchener Gestalttagen zusammen, um miteinander die zeitgemäße Entwicklung der Gestalttherapie zu erörtern. Das Thema der Tagung im Herbst vergangenen Jahres war "Die Gestalttherapie zwischen Wissenschaft und Glaube". Ich vermutete, dass dabei eine Abgrenzung zwischen Therapie als Wissenschaft einerseits und spirituellen Momenten in der Therapie andererseits versucht werden sollte. Es folgen Gedanken zum pseudoreligiösen Charakter des Wissenschaftsbetriebs, die ich dort gerne vorgetragen hätte, wenn ich nicht durch Krankheit verhindert gewesen wäre.
Gestalt hat Ganzheit im Sinn. Therapie bedeutet Dienst am anderen und am Höchsten im anderen, Geselle sein, Begleiter auf dem Weg zur Ganzheit. Gestalttherapie kann als Wegbegleitung bei der Heilung durch Erschließung der verborgenen Quellen, als Sprungbrett zum Glauben im Sinne des Vertrauens ins paradoxe Leben praktiziert werden, doch das hängt weniger von der Methode ab als vom Therapeuten. Die wissenschaftliche Gestalttherapie hingegen ist mir wie der Glaube an die Wissenschaft suspekt. Ich möchte daher ein paar warnende Bemerkungen zur Wissenschaft als Glaube machen.
Zur Einleitung
Der Gelehrte hatte gebeten, über den Fluss gesetzt zu werden. Unterwegs zitiert er aus dem Koran und erläutert Spitzfindigkeiten. Der Fährmann äußert gelegentlich "Umhum" und rudert. Gekränkt von so viel offensichtlicher Missachtung seiner Gelehrsamkeit – und anscheinend geduldig um den Ungebildeten besorgt –, sagt der Mann des Wortes: "Guter Mann, lest ihr denn gar nicht?" Die Antwort: "Nein, wieso?" Ruft der Gelehrte: "Ach du lieber Himmel, dann ist euer halbes Leben verloren!" "Umhum", stimmt der Fährmann zu und rudert. Ein Sturm kommt auf, die Wellen gehen hoch und das Boot fasst Wasser; da wendet sich der Fährmann zum Gelehrten mit der Frage: "Eminenz, könnt ihr schwimmen?" "Nein, wieso?" "Oh je!", sagt da der Fährmann, "dann ist euer ganzes Leben verloren – denn wir sinken!"
Mulla Nasrudin war hungrig und suchte auf seinem Speicher nach etwas, das man zu Geld machen könnte, fand einen alten Teppich, klopfte ihn aus, trug ihn zu Markte und bot ihn für 100 Dinar feil. Von seinem Freund Wali zur Rede gestellt, wie er eine solche Kostbarkeit, den Gipfel der einheimischen Webkunst, einen Höhepunkt seiner Kultur, für diesen Spottpreis verschleudern könne, antwortet er: "Wieso, gibt es eine Zahl größer als 100?"
"Allahs Wille geschehe", grüßt Wali, gedankenlos. "Der geschieht sowieso, immer", antwortet Mulla Nasrudin. "Woher weißt Du das?", fragte Wali herausfordernd. Die Antwort: "Wenn's anders wäre, müsste doch mein Wille manchmal geschehen – oder?"
"Ich ging hinter dem Großvater den Pfad entlang. Der Truthahn war schwer, doch er fühlte sich gut an auf meiner Schulter. Die Sonne hatte sich den Bergen in der Ferne zugeneigt, trieb durch die Zweige der Bäume entlang dem Pfad und brannte goldene Muster, wo wir gingen. Der Wind war gestorben an jenem Spätnachmittag im Winter und ich hörte den Großvater vor mir eine Melodie summen. Ich hätte jene Zeit gerne für immer gelebt ... Ich wusste, ich hatte den WEG kennengelernt."
Mit diesen Metaphern möchte ich einige wesentliche Aspekte unserer Tätigkeit als Gestalttherapeuten umreißen. Ich riskiere damit den Vorwurf, die Grenze zwischen dem psychologischen und dem spirituellen Bereich zu verwischen. Ob es da eine klare Grenze überhaupt gibt, ist ohnehin fraglich nach Abraham Maslows Befundenen von den Gipfelerlebnissen, nach denen spirituelles Erleben als Zeichen psychischer Gesundheit angesehen werden kann. Zunächst berichteten ihm besonders gesunde Menschen von Momenten offenbarer Sinnhaftigkeit des Lebens, dann beobachtete er sie jedoch bei fast allen, die er befragte. Die Unsicheren pflegten allerdings diese außerordentlichen Bewusstseinszustände, in denen sie sich fraglos lebendig, angenommen, im Kontakt mit der Wahrheit und als Teil eines großen Ganzen fühlten, zunächst zu verleugnen, gerade weil sie außer der gewohnten Ordnung waren.
Der Benediktiner Bruder David Steindl-Rast definierte einmal die Spiritualität als radikale Lebendigkeit, und darum geht es doch in der Gestalttherapie – oder? Ich arbeite seit vielen Jahren psychotherapeutisch mit Krebskranken. In dieser Arbeit ist mir eine prospektive Studie Richtschnur, in der übermäßige Rationalität, emotionale Hemmung, Verdrängung von untergründiger Verzweiflung und Verleugnung alltäglicher Ängste in der untersuchten Altersgruppe von Gesunden mehr als alle somatischen Faktoren einen Krebstod binnen zehn Jahren vorhersagen lassen. Vertrauen ins Leben (spontane Religiosität), die Fähigkeit zu körperlicher Entspannung sowie Hypnotisierbarkeit sind in jener Studie die Faktoren, die am stärksten mit Gesundheit und hohem Alter verbunden sind. Die zur Krebserkrankung neigenden Menschen sind in der Regel übermäßig angepasst und in der Arbeit mit ihnen ist eine Psychotherapie angezeigt, die über Symptombeseitigung und Wiederherstellung des normalen Funktionierens hinaus auf radikale Lebendigkeit und Selbstverwirklichung abzielt.
Die eingangs zitierten Geschichten sollen das Spektrum umreißen: Auf unserem Entwicklungsweg zum Menschsein sollen wir weiter als bis hundert zählen lernen – oder, wie Jesus sagte, Vater und Mutter hinter uns lassen und mit unseren Talenten wuchern. In der Sprache unserer Zeit ist das die Aufforderung zur Überwindung von Konditionierung durch Entfaltung unseres Potentials. Dabei geht es weniger um das, was ich will, als um das, was mich will: Kontrolle ist gut, Vertrauen ist besser. Gerade in Grenzsituationen ist Hingabe angezeigt. Das Bücherwissen ist zwar das halbe Leben, doch angesichts des Todes – der Neigung des Geschaffenen zum Verfall – wertlos ohne die Bereitschaft zum Schwimmen, zur Hingabe an ein umfassenderes Bewusstsein. Der Weg ist die Wahrnehmung der Ewigkeit im Moment.
Gestalttherapie zwischen Wissenschaft und Glaube – was hat wohl die Veranstalter zu diesem Tagungsthema bewogen? Wollten sie der Äußerung von Erv Polster nachgehen, wir Gestaltleute seien dabei, eine neue Religion zu entwickeln? Wer Erv, seine radikale Kontaktbereitschaft, sein Bekenntnis zu seiner Eigenart, seine Liebe und seinen Humor kennt, weiß, dass er damit nicht eine neue Kirche, sondern die Entwicklung eines zeitgemäßen Wertesystems und des verantwortlichen Umgangs der Menschen miteinander, mit der Welt und mit dem Leben meinte. Oder verrät das Thema Bestrebungen, die Gestalttherapie zu etwas zu machen, was ihr Ende bedeuten würde: eine etablierte Religion mit Dogma, Ritual und Moral, und mit einem Katechismus, der uns sagt, wie man Gestalttherapie richtig macht?
"Es gibt zweierlei Wissen – Wissen durch Beweisführung und Wissen aus Erfahrung. Die Beweisführung führt zu Schlussfolgerungen und zwingt mich, diese anzuerkennen. Sie beseitigt jedoch weder Zweifel noch führt sie zu jener Gewissheit, in der der Geist in Frieden ruhen kann, es sei denn, diese käme durch direkte Erfahrung zustande" – so oder ähnlich umschrieb Roger Bacon das Problem. Die etablierte Naturwissenschaft glaubte bis vor kurzem nur das, was sich messen, wiegen, zählen und wiederholen lässt. Damit beschränkte sie ihr Spektrum auf die Erscheinungen, die sich mit den äußeren Sinnen wahrnehmen lassen, während sie alles, was sich durch Erfahrung mittels der inneren Sinne wie der Intuition offenbarte, außer acht ließ. Paradoxerweise erleben gerade die naturwissenschaftlichsten der Naturwissenschaftler an den Grenzen des Mess-, Wieg- und Zählbaren die Offenbarung einer sinnfälligen Ordnung im Chaos, deren Wahrheit sich allen Wahrscheinlichkeitsberechnungen entzieht. Draußen im All zum Beispiel lernen Astronauten angesichts des offenbaren Wunders wieder glauben im religiösen Sinne, während sich Theologen immer noch wissenschaftlich um einen Existenzbeweis Gottes, und zwar ihres Gottes, bemühen.
"Die Wissenschaft, die jüngste der Religionen", sagt Doris Lessing in Shikasta, "so fanatisch und unflexibel wie nur eine, hat eine neue Lebensweise, neue Technologien und Geisteshaltungen geschaffen, die immer verhasster werden und immer mehr Misstrauen erregen. Vor nicht allzu langer Zeit war jeder Wissenschaftler davon überzeugt, dass sein Bereich der große Höhepunkt und die Krone allen menschlichen Denkens, Wissens und Fortschritts war – und verhielt sich entsprechend arrogant. Doch jetzt fangen sie an, ihre eigene Geringfügigkeit zu erkennen ..."
Als ich die Gestalttherapie als einer der ersten aus Amerika in unsere Provinz importierte, war ich überzeugt, dass dieses Mitbringsel der große Höhepunkt und so weiter (und ich der Größte) war. Allmählich fangen wir an, unsere eigene Geringfügigkeit zu erkennen und die Gestalttherapie zu sehen als das, was sie ist: Arbeit am Widerstand im Spannungsfeld von Übertragung und Gegenübertragung, also Psychoanalyse nach Freuds eigener Definition, ergänzt durch ein bisschen Gestaltpsychologie, Jungs Schattenbegegnung technisch ausgebaut durch Rüstzeug aus dem Psychodrama, ziemlich viel Wilhelm Reich, ein wenig Zen, ein wenig Existenzialismus, zu etwas grundsätzlich Neuem aufgeblasen und behaftet mit dem Charisma eines gekränkten Kriegers – in den Händen von erwachsenen Frauen und Männern eine ziemlich potente Therapiemethode, die in einer lebensbejahenden Philosophie wurzelt; in den Händen von Wissenschaftsgläubigen allerdings eine neue Fessel, so wie jedes neue Werkzeug zur Befreiung zur neuen Fessel wird, sobald sich die rechtschaffenen Rechthaber und Richtigmacher ihrer bemächtigen. Siehe Christentum, siehe Psychoanalyse.
Vor kaum hundert Jahren war die Psychoanalyse eine weltbewegende – zumindest den machthabenden Nordwesten dieser Welt bewegende – Offenbarung. Freud folgte seiner Intuition in der Arbeit mit einer hysterischen Patientin. Er sah intuitiv die Verbindung zwischen dem für den damals für Hysterie typischen arc de cercle (ein Anfall von Bewusstlosigkeit mit einem Krampf der Rückenstrecker) und frustrierter Sexualität und probierte etwas aus: er sprach die offensichtlich weitgehend besinnungslos agierende Patientin mit sexuellen Themen an und beobachtete, dass sie bewusst wurde, sich mit Freud wunderte – und das Symptom aufgab. Jung entdeckte seine Methode, als er den Erregungszuständen, die ihn überfielen und an den Rand des Wahnsinns trieben, seine Stimme lieh und sie wie Personen zu sich sprechen ließ. Freud und Jung schrieben auf, was sie dabei entdeckten – und das war und ist heute noch literarisch hochinteressant. Therapeutisch wirksam war jedoch in beiden Fällen die enge Verbindung zwischen einem wachen, für intuitive Signale offenen Bewusstsein zu den unbewussten Vorgängen.
Die Rückenlage auf der Couch und die Kontaktabstinenz des Analytikers sind – durch die Verschärfung der Übertragung – mächtige Werkzeuge zur Manipulation des Patienten in Richtung Regression: Der Patient kann sich ausgesetzt und verlassen fühlen wie der Säugling in der Nacht oder ausgesondert und geächtet wie das in die Ecke oder in sein Zimmer verbannte Kleinkind; er kann dabei in einen Erregungszustand geraten, der dem entspricht, in dem er Widerstand üben, Kontakt vermeiden und sich vom Leben abwenden gelernt hatte, und dann die damit verbundenen und lange Zeit verhaltenen Emotionen kathartisch entladen. Er kann daraus aber nur Nutzen ziehen, wenn er in diesem Erregungszustand etwas Neues erlebt im Kontakt mit einer anwesenden, einer präsenten, einer sinnlich wahrnehmbaren Person. Mein erster Therapeut – ein Analytiker, dem ich sehr viel verdanke – war trotz seiner Sparsamkeit in seinen Mitteilungen stets sehr gegenwärtig, sehr wahrnehmbar, sehr anwesend. Doch das hatte er nicht in seiner um Wissenschaftlichkeit bemühten und um wissenschaftliche Anerkennung ringenden Schule gelernt, sondern in seinem Leben als fühlender Mitmensch.
Analytiker und Analysand erfanden zunächst die Psychoanalyse miteinander. Doch in der Folgezeit ist die Psychoanalyse in den Händen von vielen, die mehr an der Bestätigung der Richtigkeit der Annahmen der Psychoanalyse als an der gemeinsamen Entdeckung der Wurzeln eines Übels interessiert sind, zu einer neuen Fessel geworden wegen der verbreiteten Einstellung: "Ich bin der Meister dieser Zunft. Was ich nicht weiß, ist nicht Vernunft." Bald konzentrierten sich Freudianer und Jungianer weniger auf die Begegnung zwischen Analytiker und Analysand und die Vermählung des Unbewussten mit dem Bewusstsein. Zunehmend richteten sie ihr Augenmerk auf die Produkte, die dieser Ehe entsprangen – die Inhalte der Fantasien, Träume, Einfälle und so weiter. Was zunächst als Prozess wahrgenommen worden war, bekam dinglichen Wirklichkeitswert. Widerstand, Verdrängung, Komplexe, Intro- und Projektionen, Ich, Es und Über-Ich wurden so im Lauf der Zeit immer mehr als wissenschaftlich greif- und handhabbare Fakten gehandelt, als Tatsachen, als Dinge also, wobei in Vergessenheit geriet, dass das Faktum und die Tatsache, wie der Name sagt, Dinge sind, die wir tun, und keine Daten, das heißt Gegebenheiten.
Im Zuge der Verdinglichung von bio- und psychologischen Prozessen geriet das Kategorisieren und Katalogisieren der objektiven Fakten in der Psyche des Objektes der Analyse durch den objektivierenden (versachlichenden) Analytiker immer mehr in den Vordergrund und die gemeinsame Entdeckung einer sich entfaltenden lebendigen Beziehung zwischen zwei Subjekten in den Hintergrund. Aus der Begegnung zwischen zweien wurde mehr und mehr die Unterwerfung des einen durch die (geistige) Penetration des anderen, wodurch die Veranstaltung weitgehend ihrer heilenden Wirkung beraubt wurde.
Die Heilkunst ist durch ihre Eingemeindung in die Naturwissenschaft zwar mächtiger, doch auch ärmer geworden. Ich konnte während meines Medizinstudiums in den offiziellen Verlautbarungen der Hochschule nichts finden, was den Namen Humanmedizin gerechtfertigt hätte, denn ein Bild vom gesunden Menschen hat die Schulmedizin – auch heute – nicht anzubieten. Freilich lernte ich von brennender Neugier für den Prozess der Evolution der Natur motivierte Naturwissenschaftler, dem Menschen im Patienten hingabevoll zugewandte Ärzte und für den Prozess der Evolution der Seele interessierte Psychologen kennen; doch für die eher seltenen kreativen Wissenschaftler ist wenig Raum an den etablierten Schulen. Diese dienen eher den von anderen Bedürfnissen motivierten Funktionären als Rahmen für den Austausch von Beachtung und als Misthaufen zum Wettkrähen, und den vielen Mitgliedern als Beschwichtigungsanstalt, als Heimathafen, als gute Investition für die Sicherung des Lebensabends – eine Karotte vor der Nase des Esels, der Möglichkeiten sucht, die Hölle zu vermeiden, in den Himmel zu kommen oder ein besonderer Esel zu werden.
Es ist wahr: Die Wissenschaft ist die etablierte Religion unserer Zeit; Messbarkeit und Reproduzierbarkeit sind ihr Dogma. Doch was lässt sich schon messen und wie wollen wir ursprüngliches Leben reproduzieren? Messbarkeit und menschliche Bedeutung sind umgekehrt proportional. Je menschlich unbedeutender etwas ist, umso leichter lässt es sich messen. Für die Standortbeschreibung von Menschen wie Moses, Buddha oder Jesus fehlen dieser Wissenschaft jedoch die Begriffe. Die Fähigkeit eines Verhungernden, sein Brot mit einem anderen Verhungernden zu teilen; eines Liebenden, dem Dienst am kranken Lebensgefährten zuliebe auf Triebbefriedigung zu verzichten; des Waldhüters im Amazonas, sich dem Wald zuliebe mit den Großgrundbesitzern anzulegen; des Soldaten, dem verwundeten Kameraden zuliebe sein eigenes Leben zu wagen – diese Talente zum Menschsein zu messen, zu wiegen und zu rechnen ist bestenfalls Unfug. Abraham Maslow, der außerordentliche Wissenschaftler, der entgegen den Regeln der Statistik das Erleben einzelner Personen als aussagekräftig achtete, beschrieb das Gipfelerlebnis als Maß für Wirklichkeit. Rogers sah als Aufgabe der Therapie die Weckung des therapeutischen Potentials, das nach seiner Beobachtung jedem Leidenden innewohnte. All dies sind Größen, die sich der Messbarkeit weitgehend entziehen.
Gestalttherapie in den Händen von Fritz Perls postuliert Begegnung in und mit der vergänglichen Gegenwart als den heilsamen Faktor in der Therapie. Dies ist eine klare Absage an die Wissenschaft im Dienste der Festschreibung der Norm. Das Aha-Erlebnis ist nicht Einsicht in den Konsens der Schafe und der Schläfer, ist nicht Unterwerfung unter die Fakten, sondern Öffnung für das Unerhörte, und verlangt Gehorsam gegenüber der inneren Stimme. Die klientenzentrierte Therapie von Carl Rogers ist als Wissenschaftliche Gesprächstherapie zur Unkenntlichkeit verkümmert. Die Gestalttherapie ist tot, so befürchte ich, wenn sie sich den Rechtfertigungskriterien der Naturwissenschaft unterwirft. Das Aha-Erlebnis, die Explosion des Unerhörten in Gegenwart und Eigenart hinein als messbares und reproduzierbares Ereignis – davor behüte uns der Himmel, wenn unsere Kunst nicht unaufhaltsam degenerieren soll zu einer konkurrierenden Untergruppe der Medizinwissenschaft, die von ihrem theoretischen Anspruch her den Menschen versachlichen muss und daher insgesamt –, von vielen einzelnen Ausnahmen in der Praxis wiederum abgesehen – in der Regel längst degeneriert ist zur angewandten Tiermedizin oder – schlimmer – zum Reparaturbetrieb.
Die meisten von uns sind zwar noch bei Verstand, doch weitgehend von Sinnen und dank wissenschaftlichem Fortschritt weit fortgeschritten vom Sinnvollen. Wie sonst können wir uns selbst und die Welt in einen Zustand bringen, der Hoimar von Ditfurth wundern machte, "warum die Menschen nicht auf die Straße rennen und schreien", ein Zustand, in dem wir nicht mehr sehen, was hässlich ist, nicht mehr spüren, was schadet, nicht mehr hören, was nach Abhilfe schreit und nicht mehr riechen, was zum Himmel stinkt. Wir geben uns mit unserem scheußlichen, schmerzlichen, lauten und muffigen Mittelmaß zufrieden. Warum schreien wir nicht für die Natur, die innere und die äußere, die wir – unterstützt von der Wissenschaft – im Dienste von Macht, Geltung und Habsucht schinden und ausbeuten?
Ausgerechnet ein Pathologe postulierte diese Merkmale des Lebendigen: radikaler Stoffwechsel, Gestaltpermanenz bei permanentem Gestaltwandel, und Verjüngung durch Fortpflanzung. Im Bereich des Seelenlebens heißt das für mich: Radikale Kommunikation, Wesenstreue bei ständiger Veränderung der Gestalt dank Potentialentfaltung, und Verjüngung durch Sexualität, Kreativität und – Liebe.
Liebe heißt, sich dafür entscheiden, sich zu zeigen und zu schauen, in der Hoffnung, dass dabei Mitteilung und Sehen gelingen mögen. Es war eine der Stärken der ursprünglichen Gestalttherapie, durch radikale Kommunikation und Konfrontation mit der Gegenwart die Absurdität unserer gewohnten Strukturen sinnfällig werden zu lassen, mit deren Hilfe wir das gegenwärtige Leben verpassen in dem Versuch, das Leiden an Wunden zu vermeiden, die längst verheilt sind.
Die Wurzeln der wachsenden Pflanze sind nur dort wirklich lebendig, wo sie sich, in der äußersten Peripherie mit radikalem Stoffwechsel beschäftigt, ins umgebende Erdreich vortasten – an der Kontaktgrenze also. Was gestern noch lebendiger Stoffwechsel war, ist tags darauf bereits strukturbewahrendes Holz. Ein untrügliches Zeichen für die Verhirnung und damit Entsaftung oder Verholzung der Gestalttherapie ist das Verschwinden des Körpers, der sich wandelt und der stirbt, aus dem therapeutischen Prozess. Perls war als Schüler Reichs ein hervorragender Charakterologe und damit Körpertherapeut. Darin lag der Grund für seine hohe Treffsicherheit in der Vermittlung von tiefer Betroffenheit, emotionaler Explosion und anschließender Integration im still wahrnehmenden Staunen, dass er den Körper als den Prozess der sich ständig wandelnden Inkarnation der Seele wahrnahm, achtete und nutzte. Die Angst vor dem Körper ist eine Angst vor dem Sterben. Eine Gestalttherapie ohne das Sterben ist ohne Leben, bietet keine Chance zum Leben und hat keine Chance, lange lebendig zu bleiben.
"Die Krankheit war mein Wecker!", sagte eine krebskranke Frau, die sich bis zur Erschöpfung ihrer Abwehrkraft für andere abgestrampelt hatte. Sie war aufgewacht für ihr Dasein, so wie sie war. Das war eine unerhörte Wahrnehmung. Wie kommt es, dass die Rechtschaffenen, die ihre Daseinsberechtigung verdienen müssen, indem sie alles richtig und jedem recht machen, sich dem Diktat der kollektiven Vernunft unterwerfen, ihre emotionale Mitteilung unterdrücken und so ihr eigenes Lied nicht mehr hören? Wie kommt es, dass gerade diese Guten gehäuft tragisch, das heißt am Krebs erkranken und erst in der äußersten Krise – und da auch nur wenige – aufwachen für die Frage: "Wofür?"
Die Frage nach dem Sinn stellt sich erst im Bewusstsein der Absurdität, sagte Dürckheim. Absurdus kommt von surdus = taub und bedeutet: besonders taub. Taub wofür? Die Frage "Wofür?" gilt im Wissenschaftsbetrieb immer noch als ketzerisch. Kürzlich schrieb ein namhafter Analytiker zum 100. Geburtstag seines Propheten Freud, dieser habe zeitlebens (einschließlich 17 Jahren mit Mundhöhlenkrebs) der Versuchung widerstanden, die spekulative Sinnfrage zu stellen. Das Wort Versuchung verrät die Zugehörigkeit des Schreibers zu einer etablierten Religion, hier der Naturwissenschaft. Wo es eine Versuchung gibt, gibt es den Versucher, der die Gläubigen von der reinen Lehre und vom rechten Pfad abzubringen versucht – und Dogma, Ketzerei und Inquisition. "Sie werden euch in den Bann tun", ist die Prophezeiung für alle, die dem folgen, der die Hingabe an den Moment im Vertrauen ins gegenwärtig sich entfaltende Leben lehrt. Sie werden uns in den Bann tun, wenn wir der radikalen, in der flüchtigen und ewigen Gegenwart präsenten und im Überall und Nirgendwo beheimateten Gestalt nicht abschwören. Und wenn wir abschwören und uns zur Heiligen Dreifaltigkeit, Objektivität, Kausalität und Wiederholbarkeit bekennen, werden wir den vielen toten Religionen eine weitere zugesellen.
Versteht mich nicht falsch. Ich liebe und achte die wirkliche, die lebendige, die am Leben orientierte und immer wieder neue Wirklichkeit schaffende Wissenschaft, betrieben aus einer tiefen Neugier, die die an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit – morgen die Summe der Irrtümer von gestern – nie mit der Wahrheit verwechselt; die mit jeder gesicherten Antwort zehn neue Fragen aufwirft und damit dieses Stück Ewigkeit sichert: dass wir aus dem kindlichen Staunen bis in alle Ewigkeit nicht herauskommen werden. Ich liebe das immer tiefere und differenziertere Staunen, das Wissenschaft sein kann. Doch ich habe lange genug in der sogenannten Naturwissenschaft gearbeitet um zu wissen, dass ihr Ziel in der Regel nicht das Staunen oder die Vervollkommnung in der Kunst des Schwimmens ist. Meist hat sie gerade die Abwehr der Notwendigkeit zu schwimmen im Sinn und hält uns durch die Voreingenommenheit mit der Fabrikation des Scheins von Sicherheit durch Sicherung von Einkommen, Position und Rang auf der Stufe des konditionierbaren Säugetiers.
Liegt hier der Kern des Problems: die Illusion der fabrizierten Unsterblichkeit, die Hoffnung der identifizierten Helfer, durch Einfluss, Status und Besitz existenzielle Unsicherheit bannen zu können? Allzu oft scheint es so. Ich war einmal zu einer Tagung des BDP (Bund Deutscher Psychologen) eingeladen, um über meine psychotherapeutische Arbeit mit Krebskranken zu sprechen. Ich stellte, so gut ich es im Moment und in der gegebenen Zeit vermochte, die Psychodynamik der dem Krebsleiden zugrundeliegenden Fixierung durch die Norm und die notwendigen paradoxen Interventionen dar. Die Studenten waren angetan; die Veranstalter jedoch waren unzufrieden. Sie bedeuteten mir, ich hätte das Thema verfehlt, da ich nicht gezeigt hatte, dass und wie durch diese Arbeit Stellen für Psychologen geschaffen werden konnten.
Die Aufnahme von Psychoanalyse in den Katalog der Kassenleistungen war einer wissenschaftlichen Studie zu verdanken, die zeigte, dass Psychoanalyse wirksam war. Das war gut, denn dadurch wurde die Psychoanalyse als Therapie gesellschaftlich relevant über die Kreise hinaus, die sich eine solch aufwendige Behandlung aus eigenen Mitteln leisten konnten. Doch die Entwicklung zur Psychoanalyse auf Krankenschein hat das Ende der Psychoanalyse als transformierende Kraft beschleunigt. Die Wirksamkeit der Gestalttherapie wissenschaftlich zu beweisen wäre gut, wenn dadurch sozial Schwache in den Genuss dieser wunderbaren Kunst kämen. Doch wenn wir der Kassenzulassung wegen oder aus Rebellion gegen die Vormacht der Ärzte – also wegen Geld, Rang und Einfluss – die Anerkennung der Wissenschaftlichkeit der Gestalttherapie betreiben, verdammen wir sie zur normalen und normierenden Mittelmäßigkeit.
Haben Sie den Film Amadeus gesehen? Er stellt einen flippigen Mozart dem gesetzten Herrn Salieri gegenüber. Mozart kann sein Genie entfalten, weil er sich so sein lässt wie Mozart – ein Kind Gottes. Salieri jedoch ist zur Mittelmäßigkeit verdammt in seinem Bemühen, jemand zu werden: berühmt, Hofkapellmeister, der Größte und so weiter, und verzweifelt an der Unmöglichkeit, ein anderer zu werden als er ist. Engagierte Gestalttherapie ist wie Mozart – sucht Sinn und Authentizität, und befähigt zur Sinnlichkeit, zum Hören der inneren Stimme, zum Unfug, zum Leiden, zum Ertragen von Paradox und Widersinn, zum Humor, zur Emotion des Herzens, zur Spiritualität, zum Vertrauen ins Leben – zum Schwimmen. Gestalttherapie als Wissenschaft, zelebriert auf Tagungen, auf denen die Gedanken von gestern vom Papier abgelesen werden – wird sie uns befähigen, unser Potential zur Eigenart zu entfalten, mit unseren Talenten zu wuchern, über hundert hinaus zählen, unseren eigenen Weg gehen zu lernen, uns dem Leben hinzugeben? Ich fürchte, sie wird uns an die Buchstaben fesseln – zugegeben, das halbe Leben – und uns für die Stürme des Lebens ungerüstet in der nächsten wirklichen Krise wie in der letzten baden gehen lassen.
Marcuse sagte einmal zu Habermas, der seinen Begriff vom guten Leben als unwissenschaftlich kritisierte: "Wenn sie das gute Leben nicht kennen, lassen sie bitte die Finger von der Revolution." Isaac Stern sagte am Ende des Films Von Mao zu Mozart dem Publikum mitten ins Gesicht: "... und wenn ihr nichts zu sagen habt, werdet bitte keine Musiker!" Beide Sätze kamen an bei mir und ich gebe sie so weiter: Wenn ihr euch durch Wissenschaftlichkeit gegen die Unsicherheit des Lebens versichern und euch dem unsicheren Leben nicht hingeben wollt, werdet bitte keine Therapeuten!