Stärkung von Selbstheilungskräften aus neurobiologischer Sicht

Erscheinungsjahr:
2012
Autor/Autorin:

Am 11. Januar 2011 hielt Prof. Dr. Gerald Hüther, der Leiter der Zentralstelle für neurobiologische Präventivforschung der Universitäten Göttingen und Mannheim/Heidelberg, in der Kreuzkirche in der Hiltenspergerstraße in München in einer Veranstaltung der Evangelischen Stadtakademie einen viel beachteten Vortrag. Wir erleben die darin vertretenen Thesen als Unterstützung für unsere Sicht der Entfaltung des menschlichen Potentials, weshalb wir hier – mit Professor Hüthers freundlicher Zustimmung – Auszüge daraus in Form eines fiktiven Interviews wiedergeben. Den vollständigen Vortrag finden Sie auf DVD bei: www.auditorium-netzwerk.de

ZIST: Woran erkennt man einen seelisch gesunden Menschen?
Ein gesunder Mensch hat all das noch, was er als Kind mit auf die Welt gebracht hat: Entdeckerfreude und Gestaltungslust, Offenheit, Beziehungsfähigkeit, Vertrauen, Zuversicht, Lebensfreude und Begeisterung über sich selbst. Er ist im Einklang mit sich selbst und in der Lage, sich in andere hinein zu versetzen. Er ist im Einklang mit der Natur und mit der Welt. Es gibt Menschen, die sich diese Offenheit bis ins hohe Alter bewahren – diese Freude am Leben, die man am Leuchten in den Augen erkennen kann.

ZIST: Wie strukturiert sich das Gehirn?
Dass das Lachen irgendwann weg und der Glanz in den Augen verschwunden ist, liegt nicht am Gehirn. Es kommt keiner als unbeschriebenes Blatt zur Welt. Wir kommen vielmehr alle mit einem riesigen Überangebot an Möglichkeiten auf die Welt, die uns auf alles vorbereiten sollen, was uns widerfahren kann. Was davon gebraucht wird, bleibt stehen, und was man nicht braucht, schrumpelt wieder ein.

Zunächst strukturiert sich das menschliche Hirn während der ganz frühen Entwicklungsphasen anhand der Signalmuster, die aus dem eigenen Körper kommen. Sobald der Körper über Nervenbahnen mit dem Hirn verbunden wird, lernt das Hirn seinen eigenen Körper nicht nur kennen, sondern auch steuern.

Nach den ersten Strukturierungen in den tieferen Bereichen des Hirns gehen wir hinaus in die Welt und lassen uns auf andere Menschen ein. Dann sind es die Beziehungen zu den für uns wichtigen Bezugspersonen, die das Hirn weiter strukturieren. Jedes Mal, wenn wir etwas Neues gefunden haben, begeistern wir uns an dem, was es in dieser Welt zu entdecken und zu gestalten gibt. Und jedes Mal, wenn wir uns begeistern, werden in unserem Hirn die emotionalen Zentren im limbischen System aktiviert, die emotionale Gießkanne, von der eine Düngerlösung fürs Hirn ausgeschüttet wird, die die Bildung von neuen Vernetzungen fördert.

All das, was man im Zustand der Begeisterung mit seinem Hirn macht, wächst und gedeiht. Die wichtigsten Lernprozesse sind die, in denen wir eine neue Erfahrung machen, die unter die Haut geht. Was mich nichts angeht, nicht berührt und nicht emotional aktiviert, das vergesse ich auch wieder.

ZIST: Wie bestimmen erste Erfahrungen zukünftige Entwicklung?
Die wichtigsten Erfahrungen machen wir schon ganz am Anfang unseres Lebens. Wir alle machen die Grunderfahrung, dass wir aufs Engste mit einem anderen Menschen verbunden sind. Diese Verbundenheitserfahrung wird zu einer im Hirn verankerten Erwartung, dass sich jemand freut, wenn wir nach Hause kommen. Wir alle sind mit dieser Erwartungshaltung auf die Welt gekommen, dass da draußen jemand ist, der oder die uns die Möglichkeit gibt, geborgen zu sein, dazuzugehören, uns verbunden zu fühlen.

Eine zweite Grunderfahrung haben Sie auch alle schon vorgeburtlich gemacht: Sie sind jeden Tag über sich hinaus gewachsen, erst körperlich und dann auch in Ihren unterschiedlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten. Sie sind autonomer geworden. Damit haben Sie eine zweite Erwartungshaltung mit auf die Welt gebracht: dass Sie da draußen Aufgaben finden, an denen Sie zeigen können, dass Sie was können, dass Sie sich frei und autonom in dieser Welt zurechtfinden.

Auch als kleines Kind noch konnten Sie schon mal etwas aktiv gestalten und Sie waren auch ein bisschen eingebettet in einen größeren Zusammenhang, in eine Familie oder in eine Welt und erwarten dementsprechend, dass beides gleichzeitig geht, frei zu sein und verbunden. Diese Grunderfahrungen können sehr leicht enttäuscht werden, wie Sie alle ahnen. Beides zugleich ist extrem schwer in unserer heutigen Zeit.

ZIST: Was passiert im Hirn, wenn ein Mensch enttäuscht, verletzt oder gekränkt wird?
Wenn diese Erwartungen, dass man in dieser Welt frei sein und seine Potentiale entfalten und gleichzeitig Verbundenheit fühlen und dazugehören darf, enttäuscht werden, dann tut das weh. Und genauso tut es weh, wenn man in einer Welt leben muss, in der man nicht versteht, was hier los ist; in der man nicht das Gefühl hat, dass man zu irgendetwas beitragen kann; und in der man auch kaum noch weiß, wozu das überhaupt alles gut sein soll, was man hier erlebt. Wenn die Erwartungen, die man als kleines Kind mit auf die Welt bringt und die man auch nie wieder verlieren kann, plötzlich auf eine Wirklichkeit stoßen, die nicht so ist, wie sie eigentlich sein sollte, dann kommt es im Hirn zu einem Zustand von Irritation und Verunsicherung. Dann kommt alles durcheinander und die Übererregung, die im Frontalhirn und in den oberen Bereichen des Hirns einsetzt, führt dazu, dass Sie keinen klaren Gedanken mehr fassen können, weil Sie die Netzwerke in diesen höheren Bereichen, die Ihr Denken und Fühlen und Handeln steuern, überhaupt nicht mehr aktivieren können. Dann kommen Sie ganz schnell in einen bedrohlichen Zustand, in dem diese Erregung auch die tieferen Bereiche, die doch eigentlich zuständig sind für die Regulation Ihrer Körperfunktionen, erreicht und das ganze vegetative System durcheinanderkommt. Dann bekommen Sie Angst und vegetative Symptome. Die Haare stehen Ihnen zu Berge, Sie kriegen einen Schweißausbruch, das Herz rast, Sie haben dieses furchtbare Gefühl im Bauch, die Knie werden weich, die Atmung wird eng. Und wenn Sie Pech haben, müssen Sie auch noch aufs Klo.

ZIST: Was hat das mit den Selbstheilungskräften zu tun?
Wenn durch diese Enttäuschungen der Hirnstamm durcheinander kommt und nicht mehr das bewirken kann, was er eigentlich tun sollte, dann brechen Ihre Selbstheilungskräfte zusammen. Es gibt natürlich Grippeviren und Bakterien, aber erst, wenn Ihre Abwehrkräfte zusammengebrochen sind, werden Sie anfällig für all die äußeren Störungen. Wenn die oberen Bereiche nicht mehr funktionieren, kommt es im Hirn zu robusteren, einfacheren Lösungen, die man schon früher verwendet hat. Und wenn die Kindheitsmuster, wie Brüllen und Türenschlagen, nicht greifen und die Angst immer größer wird, dann setzt der Hirnstamm ein mit seinen archaischen Notfallprogrammen Angriff, Flucht und Erstarrung, die in auswegsloser Lage der Reihe nach aktiviert werden. Das ist schwierig, macht keinen Spaß und ist nicht lange auszuhalten. Studien zeigen, dass Tiere, die über längere Zeit solchen unkontrollierbaren Belastungssituationen ausgesetzt werden, einfach sterben.

Wir Menschen haben dann immer noch irgendwelche Notlösungen parat. Wir können dann zum Beispiel abspalten, uns in fremde Welten hinein träumen und uns vorstellen, dass das gar nicht wir sind, die da im Augenblick so leiden. Wir können, wenn es gar nicht mehr anders geht, uns auch einfach unterwerfen. Wenn man lange genug abgewertet worden ist und das jedes Mal wieder so weh tut, können wir schon als Kinder uns einfach sagen, dass wir wirklich zu blöd sind, nicht schön genug, nicht nett genug und deswegen nicht dazugehören. Und wenn man dann wieder jemandem begegnet, der einem das bestätigt, dann sagt das Hirn, "Ha, das wusste ich doch. Das hatte ich doch schon vorhergesagt". Dann stimmen Erwartungshaltung und Realität wieder voll überein, im Hirn wird die Gießkanne der Begeisterung aktiviert und alles, was man sich eingeredet hat, wird ins Hirn noch tiefer eingebrannt.

ZIST: Was sind die Konsequenzen?
Bei denen, die keine Möglichkeit sehen, ihre Bedürfnisse nach Verbundenheit und autonomer Entwicklung gleichzeitig zu stillen, werden im Hirn die gleichen Netzwerke aktiviert wie bei körperlichen Schmerzen. Deshalb sagen wir ja auch "das tut so weh", wenn wir ausgeschlossen werden, nicht gemocht werden, nicht dazugehören. Menschen, die noch Kraft haben, reagieren auf so etwas so, als wären sie verprügelt worden: sie schlagen zurück. Doch für viele ist die einzige Lösung aufzuhören, etwas gestalten zu wollen.

Wenn Menschen die notwendige Verbundenheit und die Chance, ihre Potentiale zu entfalten, nicht finden, dann leiden sie und nehmen sich das, was sie kriegen können: Einkaufen, Fernsehgucken, Alkohol, Drogen, Weltreisen, dicke Autos, Häuser. Doch von der Ersatzbefriedigung wird niemand satt, sodass sich im Frontalhirn die Einstellung bildet, "Ich bin zu kurz gekommen – wo gibt es noch was zu holen, wo kann ich noch ein Schnäppchen machen, wo gibt es noch ein Sonderangebot, wen kann ich noch austrixen ...". Das alles ist nicht gesund für den Einzelnen und eine große Störung der Kohärenz innerhalb unseres sozialen Beziehungssystems.

ZIST: Wie können wir gegensteuern?
Nicht alle Menschen stürzen angesichts des gleichen Elends gleichermaßen schnell ab. Manche haben mehr Halt. Die finden auch noch in schwierigen Situationen Mut und Zuversicht und können unter Umständen auch in Situationen, wo alle anderen schon aufgeben, noch aufrecht stehen und nach einem Ausweg suchen. Woher ziehen diese Menschen diese Resilienz genannte Kraft, die dazu führt, dass man trotz widrigster Umstände gesund bleibt. Die Antwort der Neurobiologen ist wieder ganz einfach: Denen ist es immer wieder mal gelungen, Freunde zu finden, mit denen es glückt zu zeigen, dass sie etwas können, etwas zu verstehen, was auf den ersten Blick völlig unverständlich schien, innerhalb dieses ganzen Gewirrs von auf uns einwirkenden Faktoren Gestaltungskraft zu behalten und innerhalb dieser ganzen Sinnlosigkeit unserer gegenwärtigen Welt etwas zu finden, was Sinn macht und einem zeigt, dass man nicht umsonst auf dieser Welt umherirrt.

ZIST: Wie lassen sich solche Enttäuschungen und Verletzungen der Seele vermeiden?
Wir brauchen dafür keine anderen Gehirne, sondern die Chance, unterstützende Beziehungen aufzubauen. Dazu brauchen wir eine andere Art von Umgang miteinander, eine Beziehungskultur, in der wir gleichzeitig frei und verbunden sein können. Wenn Sie einmal in ihrem Leben einen anderen Menschen wirklich geliebt haben oder geliebt worden sind und sich gleichzeitig frei und verbunden fühlen durften und alles taten, dass der andere seine Potentiale entfalten kann, dann wissen Sie, dass das geht. In einer solchen Liebe könnten wir tatsächlich unsere beiden tiefen Grundbedürfnisse stillen, verbunden und gleichzeitig frei und autonom zu sein. Sie wissen natürlich auch, dass es schwer ist, so zu lieben. Deshalb ist es schön, dass es für uns Menschen noch eine zweite Möglichkeit gibt, in der wir uns gleichzeitig verbunden und frei fühlen können.

Wenn Sie gemeinsam mit anderen etwas gestalten oder sich gar gemeinsam um etwas kümmern, sind Sie im gemeinsamen Tun miteinander verbunden und gleichzeitig frei. Im Englischen nennt man das Shared Attention. Doch wir haben uns eine Welt gebaut, in der es uns so schwer fällt, einander liebevoll zu begegnen oder zumindest uns gemeinsam um etwas kümmern. Es gab eine Zeit, in der es selbstverständlich war, dass man sich gemeinsam um was kümmert. Wenn man da nicht gemeinsam Holz gesammelt hat, haben alle gemeinsam im Winter gefroren. Heute glauben wir, dass man das nicht mehr braucht. Heute muss keiner mehr gemeinsam mit anderen irgendwas machen. Das Ergebnis davon ist, dass man hirntechnisch das Frontalhirn nicht entwickelt, wo die etwas komplexeren Leistungen gesteuert werden, die notwendig sind, um einen Impuls kontrollieren, sich in andere Menschen hineinversetzen oder Handlungen planen und die Folgen von Handlungen abschätzen zu können. Diese sogenannten exekutiven Frontalhirnfunktionen kann man nicht in der Schule unterrichten. Um diese Funktionen zu entwickeln, bräuchte man Gelegenheiten, in denen man den Nutzen von Disziplin erfährt und den Vorteil erkennt, nicht gleich jedem Impuls gleich nachgehen zu müssen, und erkennt, dass es toll ist, wenn man denkt und plant, bevor man eine Handlung ausführt – und das geht nur dann, wenn man gemeinsam mit anderen etwas machen kann.
Enttäuschende Beziehungserfahrungen verdichten sich zu Einstellungen wie "es geht sowieso nicht", oder "die anderen müssen anfangen". Um diese Haltungen ändern zu können, müssten die Menschen eingeladen, ermutigt und vielleicht sogar inspiriert werden, eine neue Erfahrung machen zu wollen – eine neue Erfahrung mit sich selbst, eine neue Erfahrung in der Beziehung zu anderen Menschen, eine neue Erfahrung mit der Fähigkeit, sich in dieser Welt zurechtzufinden und das, was dort passiert, zu verstehen, gestalten zu können und als sinnhaft erleben zu dürfen. Doch das ist sehr schwer und noch schwerer bei denen, die schon krank geworden sind an den vielen Kränkungen, Enttäuschungen und Verletzungen, die sie in Beziehungen erleben mussten und die dann Störungen entwickelt haben.

ZIST: Ginge es auch anders?
Im Augenblick sagt uns die Weltgesundheitsorganisation eine dramatische Zunahme von angstbedingten Störungen und depressiven Störungsbildern voraus. Ich halte diesen Vortrag hier heute in der Hoffnung, dass Sie alle anschließend aus diesem Raum gehen und etwas tun. Dann würden die Prognosen der WHO nicht zutreffen. Deshalb stelle ich zum Schluss die Frage: Ginge es denn auch anders? Die Antwort heißt Ja. Das Gehirn ist veränderbar, zeitlebens, aber eben nicht dadurch, dass man sich selbst anstrengt oder andere zwingt, sich auf irgendeine Art und Weise zu verhalten, sich für bestimmtes Verhalten belohnt und für anderes Verhalten bestraft, sondern dadurch, dass man die Gießkanne der Begeisterung aktiviert und die Lust weckt, noch einmal etwas Neues entdecken und die Schönheit dieser Welt erfahren zu wollen, und Beziehungserfahrungen vermittelt, die etwas liebevoller sind als die, die man bisher gemacht hat. Wir alle können andere Menschen einladen, wertschätzen und sie daran erinnern, dass in ihnen ein Schatz verborgen ist, sodass sie sich gesehen und angenommen wissen und in ihnen die Sehnsucht gestillt wird, dass sie dazugehören, dass sie etwas leisten können, dass sie autonom und damit auch frei werden können.
Wir können dafür sorgen, dass Menschen von Kindesbeinen an bis ins hohe Alter immer wieder Gelegenheit finden, sich gemeinsam um etwas zu kümmern, gemeinsam etwas zu entdecken, gemeinsam etwas zu gestalten. Was da herauskommt, kann keiner von ihnen allein schaffen und gehört zu den beglückendsten Erfahrungen, die Menschen überhaupt machen können. Wenn wir nun wissen, dass es darauf ankommt, dass wir andere Menschen, und seien sie auch noch so enttäuscht und verletzt und gekränkt, eigentlich einladen, ermutigen und inspirieren müssten, sich noch einmal auf eine neue Erfahrung einzulassen, dann müssen wir uns selber fragen: Können wir das? Schauen Sie Ihren Nachbarn an und fragen Sie sich: kann ich diesen Menschen einladen, noch einmal eine neue Erfahrung mit sich selbst und der Welt machen zu wollen? Die Grundlage dafür, ob das geht, ist ganz banal: Sie können nur jemanden einladen, wenn Sie ihn mögen.

Als Dienstleister, als Konkurrent oder als einer, der dem anderen gleichgültig gegenübersitzt, kann man keinen Menschen einladen. Das heißt, wir müssten eine Kultur entwickeln, in der wir in der Lage sind, andere Menschen zu mögen. Es gibt natürlich tausend Gründe, irgendjemanden nicht zu mögen: Der guckt so komisch, der ist zu dick, der stinkt und was da noch alles vorgebracht werden kann. Das Geheimnis, wie man an jedem Menschen etwas finden kann, was man mag, besteht darin, dass Sie diesen Menschen genauer anschauen, dass Sie mit ihm ein Wort reden, dass Sie ihn vielleicht auch berühren, dass Sie versuchen herauszufinden, wofür der unterwegs ist. Dann merken Sie, dass es egal ist, wo dieser andere Mensch herkommt, weil er mit den gleichen Sehnsüchten, mit den gleichen Hoffnungen, mit den gleichen Wünschen und mit den gleichen Erwartungen unterwegs ist wie Sie. Der will auch dazugehören. Der möchte auch frei sein. Der möchte auch in einer Welt leben, in der er versteht, was um ihn herum passiert. Der möchte auch einer sein, der etwas gestalten kann, und der möchte auch, dass das Leben, das er führt, in irgendeiner Art und Weise Sinn macht.

ZIST: Was brauchen wir, um unsere Selbstheilungskräfte zu stärken?
Wir brauchen, wenn wir unsere Seelen gesund halten und unsere Selbstheilungskräfte stärken wollen, kein anderes Gehirn. Wir brauchen auch kein neues genetisches Programm. Wir brauchen auch keinen, der uns unsere Programme oder unsere Hirne repariert, sondern wir brauchen die Bereitschaft, anders miteinander umzugehen – liebevoller, gemeinschaftlicher. Statt uns auf Kosten anderer zu stärken, müssten wir dazu beitragen, dass andere Menschen nicht das verlieren, was sie an großartigen Schätzen mit auf die Welt gebracht haben. Diese Entdeckerfreude, diese Gestaltungslust, diese Offenheit, diese Beziehungsfähigkeit und diese wunderbare Zuversicht. Und nicht zuletzt diese unglaubliche Lebensfreude und Begeisterung, mit der man sich als kleines Kind schon auf den Weg gemacht hat. Fünfzig- bis hundertmal am Tag begeistert sich ein dreijähriges Kind im freien Spiel, wenn ihm nicht ständig einer sagt, was es machen soll. Fünfzig- bis hundertmal am Tag geht im Hirn eines Kindes diese wunderbare Gießkanne der Begeisterung an, und deshalb lernen sie alle so viel.

Und dann schicken wir sie in die Schule. Sind wir verrückt? Wie kann man in einer modernen zukunftsfähigen Gesellschaft in einer globalisierten Welt den Kindern ihre Begeisterung am Lernen, am Entdecken und am Gestalten austreiben? Die werden dann erwachsen, müssen gleichzeitig auf die Kinder aufpassen und für ihre älter werdenden eigenen Eltern sorgen und werden erdrückt von alledem, bis die Gießkanne im Hirn nur noch selten und bei manchen überhaupt nicht mehr anspringt. Wenn Sie diesen Dünger da nicht mehr ausschütten können, dann müssen Sie halt mit diesem Hirn weiterleben, das Sie bis dahin gehabt haben. Aber, und das ist die frohe Botschaft, es könnte noch einmal gehen. Ein 80-jähriger Herr hier aus München kann noch Chinesisch lernen – aber natürlich nicht in der Volkshochschule. Den müsste es so reizen, wie so einen Dreijährigen. Der müsste diese Begeisterungsgießkanne wieder in Schwung kriegen, indem er sich in eine junge hübsche 65-jährige Chinesin verliebt und mit ihr nach China zieht. Dann könnte der in einem halben Jahr Chinesisch lernen. Hirntechnisch geht das. Wenn wir mit 85 nichts mehr lernen, dann liegt das nicht am Hirn, sondern daran, dass wir die Lust verloren haben, uns gegenseitig zu begeistern und alles zu entdecken, was es zu bewundern und zu schätzen gibt in den Menschen, mit denen wir zusammen sind, und den interessantesten Schatz, den es gibt: den Schatz in sich selbst.

Wir rennen in dieser äußeren Welt umher und hoffen, dass von außen die Rettung kommt, weil wir noch gar nicht bei uns selbst angekommen sind, weil wir das, was wir als Kinder mit auf die Welt gebracht haben und was uns dann ausgetrieben worden ist oder was wir aus anderen Gründen verloren haben, noch gar nicht wiedergefunden haben: unsere Lust an uns selbst, unsere Begeisterung über jede Kleinigkeit, die es auf dieser Welt gibt, über all unsere Freude an all der Schönheit, die diese Welt bietet. All unsere Kraft, mit der wir uns auf den Weg gemacht haben und all unsere Zuversicht, mit der wir daran geglaubt haben, dass es besser wird. Ich sage es so ernst, wie ich es nur sagen kann: All das ist nicht weg. Es ist in Ihrem Hirn noch da. Sie müssen es nur wieder ausgraben. Wenn wir das wiederfinden könnten, könnten wir so stark sein, dass uns nichts und niemand auf dieser Welt mehr daran hindern kann, jeden anderen Menschen, den wir treffen, dem wir begegnen, einzuladen, zu ermutigen und zu inspirieren, noch mal die Erfahrung zu machen, wie schön es ist, wieder bei sich selbst anzukommen, sich selbst zu entdecken und gemeinsam das, was es in dieser Welt zu entdecken und zu gestalten gibt, auch tatsächlich zu entdecken und zu gestalten. Dann wären wir zu Hause in dieser Welt.

Das wünsche ich Ihnen.