Es schneit – ganz fein. Seit Wochen schneit es immer wieder. Wenn die Sonne auf den Schnee scheint und Millionen Kristalle wie Diamanten funkeln, wenn die Kälte den Pulverschnee unter jedem Schritt knirschen lässt und den Atem in eine weiße Fahne verwandelt, dann fühle ich Dankbarkeit. Dankbar bin ich auch für das Feuer im Ofen mit der großen Glasscheibe, das allein schon beim Hinschauen wärmt. Eines Morgens höre ich mehrfach Donner und wundere mich: Ein Gewitter mitten im Winter? Später sehe ich, dass der Schnee vom Dach gerutscht ist. Ich bin froh, dass gerade niemand dort war, und wundere mich: Ist das Dankbarkeit?
Was ist Dankbarkeit? Ich habe mir früh angewöhnt, anderen zuliebe Danke zu sagen, und erst allmählich gelernt, Dankbarkeit zu empfinden. Dankbarkeit ist ein Gefühl, und Gefühle sind zunächst einmal gelernt – Teil der Konditionierung. Wir lernen – meist als erstes von der Mutter – einen bestimmten inneren Erregungszustand mit einem Begriff zu belegen. Wir lernen Danke sagen, wie uns das von den Eltern vorgelebt wird oder weil sie es von uns verlangen, weil es uns Zustimmung und Akzeptanz einbringt oder Ärger und Schmerz erspart. Es gibt Menschen, die Danke sagen lernen mussten dafür, dass sie geschlagen wurden, und deren Eltern davon überzeugt waren, dass sie das aus Liebe tun mussten, damit aus den Kindern etwas wird.
Ich solle dankbar sein, dass es überhaupt etwas gibt, sagte meine Mutter, wenn ich einmal etwas nicht essen mochte – damals nach dem großen Krieg, als es nicht viel gab –, die Kinder in Indien hätten noch weniger. Und der Tante Isa solle ich schreiben und Danke sagen für die Socken zu Weihnachten, sagte sie. So habe ich also gelernt, Dankbarkeit auszudrücken, weil meine Mutter das wollte. Die Kinder in Indien ... – was wusste ich, wo Indien war? Und die Kinder? Ich kannte den Hansl vom Forstmeister, mit dem ich durch die Wälder stromerte, und erinnere mich an den Sohn vom Schmied, den Fritzi, mit dem ich später in die Berge ging. Aber ob ich schon wusste, was Kinder sind, weiß ich nicht mehr. Und wem sollte ich dankbar sein, dass ich etwas zu essen hatte? Wir hatten Hunger und unsere Mutter sorgte dafür, dass wir etwas zu essen hatten. Sie kochte jeden Tag Quark aus der Magermilch, die es in der Molkerei für die Flüchtlinge umsonst (heute sagt man kostenlos) gab; sie wusch für die amerikanischen Besatzungssoldaten die Wäsche und baute Kartoffeln und Kraut und Gurken an auf dem Acker, der früher der Fußballplatz gewesen war. Dafür, wie sie uns ohne den Vater durch die Nachkriegszeit gebracht hat, bewundere und ehre ich sie heute und bin dankbar – aber damals noch nicht. Damals war alles einfach so. Wir kannten es nicht anders und für sich selbst verlangte sie keine Dankbarkeit.
Wir Kinder gingen betteln bei den Bauern. Wir nannten es Hausieren, damit wir uns nicht schämen mussten. (Auch Scham ist zunächst ein konditioniertes Gefühl.) Wir sagten natürlich Danke. Irgendwie ahnten wir, dass das wichtig war, um später wieder was zu bekommen. Ich war immer stolz, wenn ich ein paar Eier nach Hause brachte, und bin es heute noch – vielleicht war auch die Mutter stolz auf mich. Ich kenne andere, die sich heute noch dafür schämen, dass sie damals nichts hatten – wer weiß, wer sie dafür verhöhnte?
Die Tante Isa, meine Patentante, war fein, auch wenn sie, wie wir, so gut wie nichts hatte. Die kam manchmal zu Besuch und dann sollten wir uns was schämen dafür, dass wir am Sonntag so rumliefen, sagte die Mutter. Sonntag war, wenn die Leute vom Dorf schwärzer angezogen waren und die Glocken vom Kirchturm öfter läuteten als sonst, doch was sie mit "was schämen" und "so rumlaufen" meinte, wussten wir nicht. Sie hat uns nur weniger beachtet, und das war beunruhigend.
Von Tanten, vor allem von Patentanten, bekam man nützliche Dinge wie handgestrickte Leibchen und Unterhosen. Die kratzten, doch sie waren warm. Auch da war es gut, Danke zu sagen, sonst dachte die Tante Isa schlecht von unserer Mutter, die ihre kleine Schwester war, und musste sich Sorgen machen, dass aus uns nichts werden würde. Meist runzelte sie nur die Stirne, denn sie war ja fein, wie gesagt. Sie war der Ansicht, wir bräuchten eine Erziehung. Auch da wusste ich nicht, was das war, doch ich wusste, dass wir etwas zum Anziehen brauchten, also lernte ich Danke sagen, wann immer ich dachte, das wäre gut für irgendwas oder irgendwen.
Damals stellten sich gehäuft Erfahrungen von großer Freiheit ein, in denen der in seinem Bewusstsein durch Vaterland und Muttersprache geprägte Junge durchbrach in die Wahrnehmung einer die bedingte Realität übersteigenden und umfassenden Wirklichkeit. Ich erinnere mich zum Beispiel, wie ich unter meinem Baumhaus in einer der drei großen Fichten am Osterbichl am Rand des Dorfes im Gras liege. Von ferne höre ich, wie ein Bauer seine Sense wetzt; der Föhnwind trägt das rhythmische Geräusch des Mähens und den Duft von frisch geschnittenem Gras herüber zu mir; unter mir spüre ich die Erde, in die ich mich immer tiefer einsinken lasse; ein Mäusebussard kreist im Ausschnitt zwischen den Wipfeln der drei Bäume und die Uhr am Kirchturm schlägt drei Uhr ... und mit einem Mal bin ich verzaubert, bin eins mit allem, eins mit Gras und Wind und Klang und Duft; der Sorge um die überlastete Mutter und dem Kummer um den verschollenen Vater entrückt; aufgehoben, einverstanden, von Leben durchdrungen, glücklich. Sicher fühle ich damals Dankbarkeit, ohne es zu wissen. Ich hatte das Wort Dankbarkeit noch nicht mit diesem Gefühl von überfließender Fülle und grenzenloser Einheit und Glückseligkeit in Verbindung gebracht. Doch ich fange an zu ahnen, dass das Kirchenlied "Großer Gott, wir loben Dich", das ich bislang aus schierer Freude am Singen mitgesungen habe, mit dieser erlebten Fülle zu tun haben muss.
Später, im Internat, bekomme ich manchmal ein Fresspaket vom Onkel Karlfried. Das ist gerade so viele Kilo schwer, wie er abgenommen hat. Da freue ich mich riesig über Dosenmilch und Butterkeks, Mettwurst und Lachsersatz. Doch mehr noch freue ich mich darüber, dass da draußen in der Welt jemand – mein Onkel, ein Mann – an mich denkt in meiner vaterlosen Einsamkeit (von der ich auch nichts weiß, denn das Leben ist einfach so und ich kenne es nicht anders). Wieder ein wenig später schenkt er mir ein Jahresabonnement von Orion, einer populärwissenschaftlichen Zeitschrift für Jugendliche, die meine Neugier anfacht und eine erste Ahnung erschließt von einer unbekannten Welt jenseits der beschränkten Gegebenheiten des Dorfes. Freilich habe ich dem Onkel Danke geschrieben, weil meine Mutter das gut fand, doch ich meine mich zu erinnern, dass ich damals auch anfing, mich bewusster und persönlicher als zuvor dankbar zu fühlen.
Eines Tages, ich bin noch nicht ganz vierzehn Jahre alt, stehe ich mit aufgepacktem Fahrrad auf dem Marktplatz des Dorfes. Die Mutter sagt: "Es liegt nicht in meiner Hand, ob Dir hier etwas zustößt oder da draußen, also fahr' mit Gott und fahr' vorsichtig – und schreib' mir ab und zu eine Postkarte." Und so fahre ich los in den fernen Schwarzwald zum Onkel, der für mich zum Ersatz für meinen Vater geworden war. Damals habe ich mich nicht einmal mehr umgeschaut, ich wollte nur raus und weg und weiter. Doch heute steigt in mir tiefe Dankbarkeit dafür auf, dass sie mich hat fahren lassen. "Der arme Bub, so mutterseelenallein", jammern die Bäuerinnen, bei denen ich die Zündhölzer abgebe, damit sie mich im Heu schlafen lassen, und meine Mutter schimpfen sie eine Rabenmutter. (Viel später erst erfahre ich, wie Recht sie hatten: Rabenmütter werfen ihre Jungen aus dem Nest, wenn sie flügge sind, aber noch nicht wissen, dass sie fliegen können.)
Mutterseelenallein bin ich im Internat unter all den anderen einsamen Buben. Doch in meinem Schlafsack unter freiem Himmel, auf einer Viehweide irgendwo in Frankreich, da bin ich zwar auch allein, doch in einem ganz anderen Sinn. Als sich die erste Angst gelegt hat, wird mir zum ersten Mal bewusst, was mir bereits aus den Streifzügen durch die Wälder vertraut ist: Ich bin all-ein, eins mit allem – eins mit dem Busch, bei dem ich liege; eins mit den Kühen, die in der Nähe wiederkäuen, ab und zu einen Ast zertreten, sodass es knackt, und schnauben; eins mit dem Duft von Sommerluft und Kräutern und Kuhfladen, eins mit der Kühle und Schwärze der Nacht und eins mit dem grenzenlos weiten Firmament mit seinen unendlich vielen Sternen. Da fühle ich mich klein und zugleich weit und voll, ganz unbedeutend und unendlich reich zugleich, und weiß deutlicher als je zuvor, dass ich dankbar bin.
Wofür ich dankbar bin, weiß ich damals nicht, denn ich bin eins auch mit diesem Gefühl, ohne mir Gedanken zu machen, wie ich dazu komme. Heute jedoch mache ich mir Gedanken zur Dankbarkeit angesichts all der vielen Menschen, die offensichtlich unzufrieden sind, nicht im Frieden mit sich selbst und der Welt, obwohl sie scheinbar alles haben, was man braucht, und mehr.
Ich lebe. Die Eltern hat es viel gekostet, dass durch sie das Leben zu mir gekommen ist. In unserem Teil der Welt regnet es genug, sodass alle etwas zu essen haben. Schon seit langer Zeit sind die Pest, die Pocken und die Polioepidemien ausgeblieben und es herrscht seit vielen Jahren Frieden. Mein Leben und die Wunder der Natur, die Frau an meiner Seite, die Freunde, meine Kinder und Enkel und meine Lehrer, die alle mein Leben so reich machen, aber auch die Prüfungen, an denen ich wachse – all das habe ich nicht verdient. Es ist ein glückliches Geschick, ein Geschenk des Himmels, das ich nur demütig nehmen oder hochmütig ausschlagen kann in dem Wahn, ich hätte es verdient. Ich denke an ein Bild, das ich in der Zeit nach dem letzten großen Erdbeben in Kobe in der Abendzeitung sah: Ein Mann sitzt auf einem Schuttberg, unter dem sein Vermögen und seine Familie begraben liegen. Er strahlt und sagt: "Ich lebe!"
Eine amerikanische Schülerin erklärte mir, dass sie in der Schule gelernt hätte, wie man mit den Komplimenten der jungen Burschen, mit denen man ausgeht, umgehen soll. Man sagt herzlich Danke für die Wertschätzung und gibt damit zu verstehen, dass man sie als ein Geschenk betrachtet, das einen zu nichts verpflichtet. In Bayern begegnet man der hochmütigen Versuchung, nichts schuldig bleiben und für alles eine Gegenleistung bringen zu wollen, indem man "Vergelts Gott!" sagt und damit die Gegenleistung für das unbezahlbare Geschenk einem Höheren überlässt.
Dankbarkeit macht frei. Das Geschenk, das man nicht verdienen kann, weil es ja bereits geschenkt ist, dankbar zu nehmen, ist eine Geste der Demut, die uns nur glückt, wenn wir darauf verzichten können, alles im Griff haben, alles selber machen und alles verdienen zu müssen. Wer sich dem größeren Ganzen beugen, die Gaben des Lebens nehmen und dafür danken kann, ist frei. Frei auch dafür, vom Geschenkten weiterzuschenken an die, die bedürftig sind und ihrerseits frei sind, zu nehmen.
Dankbarkeit ist ein Schlüssel zum Reichtum. Jedes Mal wenn ich mich bewusst bedanke für etwas, das mir geschenkt wird – eine Zuwendung, ein Gruß, ein guter Wunsch, ein Interesse an meiner Person, an meinem Tun oder an dem, was ich zu sagen oder zu geben habe –, stelle ich mit dem Dank eine Quittung aus, mit der ich besiegele, dass ich etwas bekommen habe und damit reicher geworden bin.
Dankbarkeit selbst ist eine Gabe, ist Teil unserer menschlichen Natur wie die Freude und das Mitgefühl, die Sorge und die Fürsorge, der Hass und die Liebe. Ein menschliches Potential, wie Aldous Huxley sagte; inbildhaft eingeboren in den Worten Graf Dürckheims.
Das inbildhaft gegebene Potential bedarf des Vorbildes, um geweckt zu werden und sich entfalten zu können. Wir lernen den aufrechten Gang bei aufrecht gehenden und das Lieben bei liebevollen Mitmenschen. Interesse, Neugier und Forschergeist können sich bei offenen Menschen eher entfalten als bei zugeknöpften; und die Missbrauchstäter sind in der Regel selbst missbraucht worden. Auch wenn wir ein Leben lang versucht haben, anderen zuliebe so zu tun, als wären wir so, wie sie es gerne hätten, wartet die Wahrheit über unsere Eigenart doch stets darauf, von uns entdeckt zu werden, angesteckt von einem Menschen, der riskiert, notfalls andere zu enttäuschen, um sich selbst treu zu bleiben.
Dankbarkeit ist auch eine Übung. Augustinus nannte den Vorgang, durch den wir uns die Tugenden aneignen, Identifikation. Wir werden heilig, indem wir immer wieder das Gleiche tun (idem facere) wie die Heiligen. Wir können üben, immer wieder, wie von der Mutter gelernt, Danke zu sagen, wenn uns etwas geschenkt wird. So lernen wir allmählich, uns dankbar zu fühlen wie sie (aber auf unsere eigene Weise), wenn sie vor Freude über ein Geschenk leuchtet. Und wir geben damit zu verstehen, dass wir uns über das Geschenk freuen, was wiederum den Geber freut, wenn sein Geschenk genommen wird.
Der Morgennebel reißt auf und gibt den Blick frei auf die überwältigende Pracht der schneebedeckten Berge und mein Herz geht auf vor Dankbarkeit. Meine Enkelin strahlt vor Freude über das kleine Geschenk, das ich ihr mitgebracht habe, sagt Danke, so wie ihre Mutter es ihr vorgelebt hat. Ich freue mich, dass ich ihr eine Freude machen konnte, und sie freut sich, dass ich mich freue. Was für ein guter, reicher Tag.
Der Frühling kommt. Manchmal singt schon die Amsel am frühen Morgen ihr Lied. Ich nehme es für mich und fühle mich dankbar. Ich weiß, dass ich, wenn ich in den Wiesengrund gehe, wie jedes Jahr die Märzenbecher den Schnee durchstoßen sehen werde. Doch wenn ich sie dann tatsächlich vor mir sehe und entdecke, dass sie dabei so viel Hitze entwickeln, dass sie einen Trichter um die leuchtend grünen Blattlanzen schmelzen, dann freue ich mich wie beim ersten Mal und bin dankbar, dass sie wieder gekommen sind – und auch dafür, dass ich es noch einmal sehen kann.
Danke, Bruder David. Danke für die Erinnerung an die Gabe, Danke für das Vorbild und Danke für die unermüdlichen Hinweise auf die Vielfalt an guten Gründen und Möglichkeiten, die Kunst der Dankbarkeit als einen Teil der Lebenskunst zu entfalten.
Geringfügig korrigierter und ergänzter Beitrag zur Festschrift für Bruder David Steindl-Rast zum 80. Geburtstag: Rosemarie Primault und Rudolf Walter Hrsg.: Die Augen meiner Augen sind geöffnet. Erfahrungen der Dankbarkeit; mit Beiträgen von unter anderen Ingrid Riedel, Willigis Jäger, Chungliang Al Huang, Joan Halifax, Bert Hellinger, Thich Nhat Hanh.
Herder Freiburg 2006
ISBN 978-3-451-29051-0