(Überarbeitete und gekürzte Fassung eines Vortrags, gehalten im Oktober 1993 bei den Münchener Gestalttagen)
Wesen
Der Begriff des Wesens wurde von Meister Eckart in die Philosophie eingeführt als im Deutschen gleichbedeutend mit dem lateinischen Essentia. Wesen kommt vom althochdeutschen Wesan – das heißt Sein – und bedeutet bei Dingen wie Personen zunächst die Hauptsache gegenüber der Nebensache, das Bleibende gegenüber dem Veränderlichen. Wir können uns der Bedeutung des Wortes nähern über die Begriffe, in denen es sich ausdrückt.
Als anwesend bezeichnen wir etwas, das wahrnehmbar da ist. So ist menschliche Gesundheit nicht nur die Abwesenheit von Krankheit, sondern zeigt sich in der Art und Weise, in der eine Person anwesend ist, in der sie da ist, in Kontakt ist, wahrnimmt, fühlt, denkt und handelt. Ebenso ist Stille nicht lediglich die Abwesenheit von Krach, vielmehr ist Stille überall anwesend. Wenn sie am verkehrsreichsten Platz Ihrer Stadt ganz versammelt auf das Lied der Amsel horchen, tritt Stille ein. Auf dem Gipfel eines Berges, im Dunkel des Waldes, in einer alten Kirche ist Stille anwesend. Zusammen mit der Stille ist etwas spürbar da, das wir mit Sinnen nicht greifen und doch erfahren können.
Dann haben wir das Wort wesentlich. Das ist etwas ganz anderes als wichtig. Wichtig sind die Dinge immer in Bezug auf Wertmaßstäbe, Neigungen, Vorlieben, persönliches Ermessen. Es gibt wichtige Dinge, die sind uns wichtiger als andere, und solche, die sind uns am wichtigsten. Das Wort wesentlich hingegen kennt keine Steigerungsform. Es beschreibt das Ding an sich, das Herz oder den Kern der Dinge. Wir nennen etwas wesentlich, wenn es so ist, wie es ist, jenseits von Wertmaßstäben, Neigungen und so weiter.
Schließlich finden wir das Wort Wesen wieder im Lebewesen. Das Lebewesen stellt die Erscheinung seines Wesens dar. Das Wesen ist also die grundlegende Wirklichkeit des Lebewesens, wo hingegen das Lebewesen der sinnlich wahrnehmbare Ausdruck des Wesens ist. Das Wesen ist nicht von dieser Welt, doch es lebt in dieser Welt als Lebewesen. Das Wesen ist zeitlos, es ist, wie der Zen-Koan sagt, vor Vater und Mutter, es ist unerschaffen und unerschaffbar. Das Wesen überdauert allen individuellen Tod. Das Lebewesen hingegen ist anwesend nur, so lange es lebt und bis es verwest.
Und damit sind wir beim Verwesen, jenem Vorgang, bei dem sich das ungeschaffene Wesen von seiner als Lebewesen geschaffenen Form löst und sich dem großen Sein anheimgibt so wie sich der Fluss ins Meer ergießt, während das Geformte zurücksinkt dorthinein, woraus es geschaffen wurde: Staub zu Staub – Asche zu Asche.
So steht es im Brockhaus: Das Wesen ist das tragende, gründende Sein des Seienden, welches das Seiende überhaupt erst ermöglicht und von dem das Seiende nur die Erscheinung ist. Das Wesen ist also die eigentliche, die urbildliche und vernunftgemäße Wirklichkeit – das, was wirkt – der gegenüber die raumzeitliche Realität – das, was Sache ist – lediglich Abbild und Erscheinung ist, dabei allerdings nicht bloß Schein, sondern gerade Verwirklichung des Wesens.
Das Wesen allen Wesens ist das göttliche Sein, die reine Wirklichkeit – das große Geheimnis, wie die Indianer sagen. Es zeigt sich in aller Schöpfung, also auch im menschlichen Wesen. Vom Wesen des Einzelnen – Almaas nennt es persönliche Essenz – sagte Meister Eckart, es sei inbildhaft.
Das Wesen in der Humanistischen Psychologie
Der Begriff vom Wesen als Inbild persönlicher Menschlichkeit findet in unserer Zeit wieder Eingang in die Psychologie durch Karlfried Graf Dürckheim. C. G. Jung hatte sich ihm genähert mit seiner Vorstellung vom Selbst als einer das Freudsche Ich umfassenden Instanz. Abraham Maslow, einer der Gründerväter der Humanistischen Psychologie, benutzte für das uns eingeborene Gestaltungsprinzip den von Aldous Huxley geprägten Begriff das menschliche Potential.
Die Humanistische Psychologie etablierte sich in den sechziger Jahren in den USA als sogenannte Dritte Kraft neben der Psychoanalyse und dem Behaviorismus. Ihre Vertreter fanden zusammen in der Überzeugung, dass weder Behaviorismus noch Psychoanalyse der Menschlichkeit des Menschen gerecht wurden. Sie untersuchten spezifisch menschliche Qualitäten wie Präsenz, Interesse, Mut, Würde, Liebe und Verantwortung, die Neigung zum Wahren, Schönen und Guten, den Wegcharakter des menschlichen Lebens, die Bedingungen für die Entwicklung von Geistigkeit und Spiritualität und so weiter.
Zu den Wissenschaftlern gesellten sich Kliniker wie Carl Rogers, Viktor Frankl, Fritz Perls, Virginia Satir und viele andere, die die geltenden Therapieziele für zu eng gesteckt hielten. Sie erlebten in ihrer therapeutischen Arbeit, dass ihre Patienten auf mehr hoffen konnten als auf Wiederanpassung an die Norm, besseres Funktionieren und die Reifung des namenlosen Elends zum persönlichen Leid. Sie sahen, dass der Lebensweg nicht nur seinen Ursprung in der Vergangenheit hatte, sondern auch einen gegenwärtigen Prozess und ein zukünftiges Ziel, den zu durchleben und auf das hin zu leben sich lohnte, wenn es einen Sinn hatte.
Abraham Maslow ging ein Leben lang der Frage nach, was menschliche Gesundheit ausmacht. Zu diesem Zweck untersuchte er die Lebensläufe besonders gesunder Menschen und fand eine Hierarchie von Bedürfnissen. Er unterschied zwischen primären und höheren Bedürfnissen, zwischen Bedürfnissen nach ursprünglicher biologischer Befriedigung (Luft, Wasser, Nahrung und Schlaf, aber auch nach Beachtung zur Daseinsbestätigung, Geborgenheit, Schutz und so weiter) und solchen nach mitmenschlicher Zugehörigkeit, nach sinnvollem Tun und schließlich nach Selbstverwirklichung. Zu werden, wer man von Anbeginn immer war, erwies sich als das höchste Ziel.
Im Gegensatz zu Freud, dem Kulturbildung nur durch Triebunterdrückung möglich schien, sah Maslow die Entfaltung der höheren Bedürfnisse nicht im Kontrast zu primärer Bedürfnisbefriedigung, sondern als deren Folge. Er beobachtete, dass auch die höheren Bedürfnisse wie das nach sinnvollem Tun, Kreativität, Dienst am Mitmenschen und an der Gemeinschaft, Freude am Wahren, Schönen und Guten und so weiter, den Charakter von Trieben haben, die sich durchsetzen, sobald Primär- oder Mangelbedürfnisse ausreichend befriedigt waren. Er fand zudem heraus, dass die Grundbedürfnisse in ihrer Triebkraft um so weniger bestimmend waren, je mehr sie befriedigt und als befriedigbar erlebt worden waren. Verkürzt ausgedrückt bedeutet das: Wer sich die kleinen Freuden selbstverständlich gönnt und keine Kraft in der Selbstunterdrückung vergeudet, hat Kräfte frei für die Verwirklichung höherer Ziele.
Gesunde Menschen schöpfen, so Maslow, die Kraft zu herausragenden Leistungen aus dem Verzicht auf Befriedigung primärer Bedürfnisse und nicht aus deren Unterdrückung. Das Streben nach dem Höheren, Geistigkeit und die Suche nach Gotteserkenntnis stehen nicht im Widerspruch zum natürlichen Menschen, sondern sind eingeborener, geradezu instinkthaft verankerter Ausdruck menschlicher Natur.
Der verwirklichte Mensch ist der Bürger zweier Welten. Wir kommen aus doppeltem Ursprung, wir sind bedingt und unbedingt (Dürckheim), wir leben in zwei Wirklichkeiten (Castaneda), wir sind in der Welt, doch nicht von der Welt (Jesus). In der einen Welt geben wir dem Kaiser, was des Kaisers ist, zahlen Steuern, ernähren uns ausreichend, putzen uns die Zähne, beachten Verkehrs- und Höflichkeitsregeln und so weiter. In der anderen Welt wissen wir, dass die eine nur ein Traum ist, ein Abbild der Wirklichkeit, die wir in manchen Momenten schmecken. Die eine Wirklichkeit lernen wir durch Mutter und Vater kennen (wir sollen sie verlassen, wenn wir den Weg des Menschen gehen wollen, sagt Jesus). Die andere, die urspüngliche Wirklichkeit zeigt sich uns durch göttliche Offenbarung (Tradition), durch direkte Erfahrung, durch Seinsfühlung (Dürckheim) und im Gipfelerlebnis (Maslow).
Wo Freud als Grundlage menschlicher Natur das polymorph perverse Kind sah, entdeckte Maslow – ohne sich Illusionen über die Vielzahl von möglichen Verformungen als Reaktion auf perverse Sozialisierung zu machen – den potentiellen Yogi oder Christen in jedem von uns. Da, wo Freud im religiösen Streben Selbstbetäubung sah, entdeckte Maslow – als Sohn einer bigotten Mutter gegen großen Widerstand – spirituelle Erfahrung in Form von Offenbarung selbstevidenter Wirklichkeit als Merkmal gesunder menschlicher Entwicklung.
Er fand, dass die von ihm untersuchten Selbstverwirklicher häufig berichteten – ich zitiere – "so etwas wie mystische Erlebnisse gehabt zu haben, Momente von tiefer Ehrfurcht, tiefsten Glücks oder gar der Verzückung, Ekstase oder Seligkeit. ... Jedes Getrenntsein von der Welt und jede Distanz waren verschwunden, als sie sich eins mit der Welt fühlten, mit ihr verschmolzen, ihr wirklich zugehörig, statt außerhalb zu stehen und hineinzuschauen. Aber das Allerwichtigste bei den Berichten über diese Erfahrung war das Gefühl, dass sie wirklich die höchste Wahrheit gesehen hatten, das Wesen der Dinge – das Geheimnis des Lebens – als ob Schleier beiseite gezogen worden wären.".
Maslow gesteht: "Das Wenige, das ich bis dahin über mystische Erfahrungen gelesen hatte, brachte sie mit Religion in Verbindung, mit Visionen des Übernatürlichen. Und wie die meisten Wissenschaftler hatte ich ungläubig die Nase darüber gerümpft und alles als Unsinn abgetan, als Halluzination oder Hysterie vielleicht, als höchstwahrscheinlich pathologisch, ... aber die Menschen, die mir das erzählten oder über solche Erfahrungen schrieben, waren nicht pathologisch. Es waren die gesündesten Menschen, die ich finden konnte ...
"Diese Erfahrungen traten auf in großen Augenblicken von Liebe und Sex, bei großen ästhetischen Eindrücken, besonders in der Musik, bei der Freisetzung von Kreativität und kreativer Begeisterung, in großen Momenten der Eingebung und des Entdeckens; bei Frauen, wenn sie ihre Babys auf natürliche Weise zur Welt brachten, oder einfach, wenn sie sie liebten; in Augenblicken des Verschmelzens mit der Natur, im Wald, am Strand, auf einem Berg und so weiter ... Und so war die zweite große Lektion, dass es sich dabei um eine natürliche und nicht um eine übernatürliche Erfahrung handelte. Ich gab also den Begriff mystische Erfahrung auf und nannte diese Erfahrungen nun Gipfelerlebnis. ..."
"Die nächste große Lektion war, dass Gipfelerlebnisse weit verbreiteter waren, als ich je angenommen hatte. ... Ich vermute jetzt, dass sie tatsächlich bei praktisch jedermann auftreten, auch wenn sie nicht als das erkannt und akzeptiert werden, was sie sind." ...
"Ein wesentlicher Gewinn, den ich von dieser Erfahrung habe und den wir alle haben können, ist der, dass sie uns hilft, einander besser zu verstehen. In unserem Innern ist viel mehr Übereinstimmung als in den Äußerlichkeiten. In anderen Worten: Das Persönlichste, Lebendigste in uns ist etwas, das wir alle miteinander teilen. Denn während dieser Gipfelerlebnisse sind wir uns sehr klar und intensiv bewusst, dass wir zusammengehören und etwas teilen, das jedem menschlichen Wesen eigen ist. ... in bestimmten Momenten sprechen (wir) alle eine gemeinsame Sprache, machen eine gemeinsame Erfahrung und leben in derselben Welt. In diesen Momenten sind (wir) am lebendigsten. In unseren lebendigsten Augenblicken sind wir eins miteinander."
Die Schriftstellerin Mary Austin beschreibt ein Gipfelerlebnis aus ihrer Kindheit, in dem die Verbindung zum Religiösen direkt angesprochen ist: "Ich muss zwischen fünf und sechs Jahre alt gewesen sein, als mir diese Erfahrung zustieß. Es war ein Sommermorgen, und das Kind, das ich war, war allein durch den Obstgarten hinuntergegangen und kam am Rand des sanft abfallenden Hügels heraus, wo Gras wuchs und der Wind wehte und ein hoher Baum stand, der sich in die unendliche Weite des blauen Himmels reckte. Nach einer Weile der Stille wurden plötzlich die Erde und der Himmel, der Baum, der wehende Wind, das Gras und das Kind inmitten von alledem miteinander lebendig in einem pulsierenden Licht von Bewusstsein. Ich kann mir die unerwartete, umfassende Bewusstheit alles Einzelnen für das Ganze ins Gedächtnis zurückrufen – ich in allem anderen und alles andere in mir – und wir alle zusammen eingehüllt in eine warme, strahlende Kugel von Lebendigkeit. Ich erinnere mich, wie das Kind überall nach der Quelle dieses Glücks Ausschau hielt. Und endlich fragte es: "Gott?". Denn Gott war das einzige Wort der Ehrfurcht, das es kannte. Tief innen vernahm es, wie das leise Tönen einer Glocke, die Antwort: "Gott – Gott!" Wie lange dieser unsagbare Augenblick dauerte, ich weiß es nicht. Er zersprang wie eine Seifenblase, als plötzlich ein Vogel sang; und der Wind wehte, und die Welt war wie immer und doch nie mehr ganz so wie zuvor."
Aldous Huxley hatte die Fülle der Möglichkeiten zum Menschsein, die sich ihm in seinen Experimenten mit psychotropen Drogen zeigte, das menschliche Potential genannt. Maslow übernahm den Begriff als treffende Bezeichnung für die von ihm an besonders gesunden Menschen beobachtete Neigung zur Entfaltung wahrer Menschlichkeit, für die die Trieblehre Sigmund Freuds zu eng war.
Die etablierten Schulen der Psychologie hatten und haben keine anderen als psychopathologische Kriterien zur Verfügung für für Menschen, die ganz und gar transparent waren fürs Wesen, die in dieser Welt waren, aber nicht von dieser Welt – Menschen wie Buddha, Moses, Jesus oder Mohammed. Dementsprechend fehlt ihnen auch die theoretische Basis für ein Verständnis jeglicher höheren Lust, wie zum Beispiel der Bereitschaft eines Liebenden, dem Dienst an der kranken Lebensgefährtin zuliebe auf sexuelle Befriedigung zu verzichten, eines KZ-Insassen, sein Brot mit einem anderen Verhungernden zu teilen, des Waldhüters im Amazonas, sich dem Wald zuliebe mit den Großgrundbesitzern anzulegen, und des Soldaten, dem verwundeten Kameraden zuliebe sein eigenes Leben zu wagen.
Für Maslow war die Neigung zur Entfaltung der Menschlichkeit einschließlich der Offenheit für geistige Erfahrung eine Eigenschaft menschlicher Natur. Hier blieb er zeitlebens ambivalent, ja befangen in seiner Wissenschaftlichkeit. Obwohl er bei seinen wissenschaftlichen Untersuchungen immer wieder menschliche Zeugnisse für das Wirken einer göttlichen Kraft fand, verwahrte er sich doch stets gegen die Annahme der Existenz eines göttlichen, die menschliche Natur übergreifenden Seins. Anders ausgedrückt: Er bezeugte die Immanenz des Göttlichen in aller Wirklichkeit und scheute davor zurück, sich der Transzendenz Gottes zu beugen. Er lernte von seinen Studienobjekten, das Göttliche in uns zu sehen, doch blieb ihm der Friede des Ruhens in Gott vorenthalten. Er kommt mit seiner Formulierung vom menschlichen Potential dem Wesen zwar nah, ohne jedoch (zumindest in seinen Schriften) zum Wesen durchzustoßen. (Ein für ihn noch zu Lebzeiten peinlicher Nebeneffekt war, dass die, die in Wochenendkursen an Volkshochschulen und ähnlichen Institutionen die Entdeckung ihrer Buddhanatur betreiben, sich beliebig und auszugsweise seiner Ergebnisse zur Legitimation ihres Tuns bedienten.)
Charakter
Maslow beobachtet in seinen Studien – und Dürckheim berichtet das gleiche in seinen Darstellungen der Seinserfahrungen –, dass Menschen mit dem gesteigerten Bedürfnis nach Kontrolle dazu neigen zu leugnen, je Gipfelerlebnisse gehabt zu haben, weil sie nicht normal sind. Während diese Menschen berichten, sie hätten das nie jemand erzählt, weil sie dachten, sie seinen vorübergehend verrückt gewesen, gibt Maslow zu bedenken, dass dies nicht etwa eine krankhafte Anwandlung, sondern vielleicht der einzige klare Augenblick war, den die Person je hatte.
Die Art und Weise, in der wir alles streng unter Kontrolle halten, um normal zu erscheinen, nennen wir Charakter. Das Wort kommt aus dem Griechischen und bedeutet: Das Geprägte. Während unser Wesen bestimmt, wer wir im Prinzip – das heißt von Anbeginn – sind, definiert unser Charakter, wer wir unter dem Einfluss der Welt zu sein glauben.
Der Charakter ist die eingefleischte Geschichte unserer Sozialisierung, die psychosomatische Einheit der Erscheinung, der sichtbare Ausdruck unserer Kompromisse, die wir in früher Not geschlossen haben und die uns heute an die Illusion des Ich (Watts) glauben lassen. Stanley Keleman nannte Charakter die bevorzugte Weise, in der Welt zu sein. Charakter ist die bevorzugte Weise, von der Welt oder Teil der Welt zu sein, in der wir uns dem Wesen verstellen, unser geistiges Potential vergessen und unsere Talente vergraben halten, anstatt mit ihnen zu wuchern.
Wie kommen wir dazu, uns so festzulegen auf ein definiertes Repertoire an gewohnten Wahrnehmungen, Gefühlen, Gedanken und Handlungen? Die Antwort auf diese Frage verdanken wir der Psychoanalyse und ihren Fortentwicklungen durch Wilhelm Reich, Alexander Lowen, Alice Miller und andere.
Das Neugeborene manipuliert seine Umwelt – das ist zunächst die Mutter – mithilfe seiner eingeborenen und weitgehend ausgereiften Emotionen (das sind Bewegungen aus dem Inneren nach außen), mit dem Ziel der Befriedigung seiner gegebenen Bedürfnisse beziehungsweise Erwartungen. Befriedigung wie Frustration werden wiederum emotional geäußert. Bei Befriedigung der Bedürfnisse gewinnt das Kind mit der Zeit Kompetenz und Selbstvertrauen im emotionalen Ausdruck, der ökonomischer und differenzierter wird.
Werden seine Erwartungen nicht erfüllt und seine entsprechenden Emotionen durch drohende Vernichtung, Vernachlässigung, Überforderung, Manipulation, Verführung, Unterdrückung, Missachtung, Verkennung et cetera beantwortet, dann lernt das Kind zunächst den emotionalen Ausdruck, bald jedoch die Wahrnehmung des Bedürfnisses und schließlich gar den Bedürfnisimpuls selbst durch Anspannung der entsprechenden Muskulatur zu unterdrücken. Der von Freud beschriebene Vorgang der Verdrängung ist demnach mit Muskelkraft geleistete Arbeit. Um zu bekommen, was sie brauchen, lernen Kinder die Luft anhalten, die Zähne zusammenbeißen, die Kehle verschließen, die Schultern hoch- und den Bauch einziehen, die Knie durchdrücken, den Hintern zusammenkneifen und anderes mehr.
Doch der Mensch lernt wenig vom Halten und viel aus Erfahrung – das heißt, wir entwickeln uns in Bewegung (fahren). Dank der allem Tierreich eigenen Fähigkeit zur Fortbewegung, der Aggression, bewegen wir uns in Beziehung zu Objekten, und zwar auf sie zu, von ihnen weg oder gegen sie. Wir nehmen die damit verbundene innere Bewegung wahr als Empfindung, geben ihr Bedeutung als Gefühl und äußern sie als Emotion. Wer nun viel hält, bewegt sich entsprechend wenig, lernt wenig, fühlt wenig, äußert wenig und entwickelt wenig Selbstgefühl. Je weniger Selbstgefühl ein Mensch entfaltet, umso mehr lernt er, auf ein abstraktes Selbstbild, auch Image genannt, zu bauen, für dessen Bestätigung er auf andere Menschen angewiesen bleibt.
Die soeben beschriebenen Abwehrmechanismen werden – wie das Speicheln des Pawlowschen Hundes beim Klingelzeichen – im Körper eingefleischt als konditionierte Reflexe, die die Entfaltung des Wesens in der Person verhindern.
Wenn Sie, so wie Sie gerade sitzen, ein wenig die Schultern hochziehen, werden Sie die Umgebung automatisch als bedrohlich erleben; mit verbissenen Zähnen sehen die Mitmenschen weniger freundlich aus und mit durchgedrückten Knien verlieren Sie den Kontakt zum Boden wie zur Wirklichkeit. Alle Liebe um uns herum kann so nicht wahrgenommen werden; denn in der Abwehrhaltung, mit deren Hilfe wir vergangene leidvolle Erfahrung verdrängen können, sind wir auch verschlossen gegenüber jeder neuen, heilsamen Begegnung und provozieren die Wiederholung des bekannten Leids.
Diese ständige Wiederholung des Alten hindert uns an der Verwirklichung unseres Potentials, das sich uns offenbart einerseits als Bedürfnis ("Was will ich im Leben?") und andererseits als Auftrag ("Was will mich? Wozu bin ich eigentlich da?"). Der Freudsche Wiederholungszwang ist, so gesehen, Wiederholungsnotwendigkeit. Die Notlösung von damals wird immer wieder die Not von heute.
Die Gewohnheit, uns zu schützen vor den Schmerzen, die wir als Kinder erdulden lernten, verbietet es uns, zu sein wie die Kinder, und hindert uns so an wesentlicher, an gegenwärtiger Erfahrung.
Wie waren wir als Kinder? Wir waren Ausdruck unseres Wesens. Wir waren zunächst einmal einfach da, sodass wir dem Kasperl, der fragte, "Kinder, seid ihr alle da?", eindeutig zuschreien konnten: "Jaah!" Wir waren offen, wir waren voller Interesse, ganz Wahrnehmung, waren ängstlich und mutig, stark und verletzlich. Wir wussten, was stimmte – solange wir noch nicht auf richtig und falsch festgelegt waren – und sagten unsere Wahrheit. Wir kannten uns schon als ich und du, und ich anders als du, doch wir kannten uns – gemäß der menschlichen Neigung und Fähigkeit, mit dem anderen Menschen und mit aller Welt zu verschmelzen – auch noch als ich und du verbunden im Einen. Wir kannten uns selbst, wir wussten, wer wir waren, wir waren selbstverständlich wir selbst. Wir kannten unseren Wert als Geschöpf und liebten uns selbst und das Leben.
In dem Maße, in dem wir abgelehnt, bestraft, geächtet, fallengelassen oder gar am Leben bedroht waren für das, was wir vom Wesen her waren, lernten wir, uns selbst zu halten und uns so zu verhalten, wie die anderen uns wollten, indem wir uns die Haltungen einprägten, in denen die, die Macht über uns hatten, uns als normal ertragen konnten. So haben wir oft gelernt, uns vor uns selbst so gut zu verstecken, dass das Wesen uns nicht mehr finden kann. Das Selbstgefühl, mit dem das Kind selbstverständlich rief, "Ja, ich bin da!", und der Sinn für Stimmigkeit, mit dem wir die Welt wahrnahmen, wurden – unter dem Einfluss der Gegebenheiten und Bedingungen der Welt – im Lauf der Zeit zum Selbstbild und zur akzeptierten Rechtschaffenheit.
Die Konstruktion eines solchen Selbstbildes ist ein Ersatz für das im Wesen wurzelnde Selbstgefühl. Sie führt immer wieder nur zu einem Selbstbeweis, doch nie zu einer unmittelbaren Selbsterfahrung. Eine einfache Metapher soll das Gesagte deutlich machen: Boris Becker sitzt im Sessel und schaut auf dem Video Boris Becker und Stefan Edberg zu. Solange Boris Becker weiß, dass er es ist, der dort im Sessel sitzt, Coca-Cola schlürft und schaut, ist er bei sich. Wenn er aber anfängt, sich mit den Bildern, die einmal von ihm gemacht wurden und jetzt wiedergegeben werden, zu identifizieren, dann ist er befangen durch seine Identifikation und hat damit ein Problem: Da seine Möglichkeit zur direkten, konkreten Selbsterfahrung im Augenblick blockiert ist durch ein Bild, leidet er noch einmal an der Niederlage, die er längst überstanden hat.
Die Leere
Wo einst das Wesen in unserer selbstverständlichen Wahrnehmung stets präsent war, erlebt die im Charakter fixierte Persönlichkeit ein Loch. Der durch ein Selbstbild verstellte Zugang zum Wesen wird als Mangel erlebt wie das Fehlen von Wasser oder Vitamin C. Dieser Mangel ist verbunden mit dem stets mahnenden Grundgefühl, dass etwas Wesentliches fehlt. Ohne ein Wissen um das Wesen bleiben wir in einer undefinierten Sehnsucht hängen, die ungestillt bleibt wie jeder fehlgedeutete Hunger. In dieser Situation versuchen wir dann vergeblich, den Mangel zu kompensieren: Den Mangel an Präsenz durch Provokation von Beachtung, den Verlust des süßen Gefühls, lebendig zu sein, durch Sucht nach Süßem; den der Stille durch Betäubung und den des Selbstwerts durch Geltungssucht; den Mangel an wesentlichem Kontakt durch Beziehungssucht, den Verlust der Lebenslust und der Fähigkeit, mit der Welt zu verschmelzen, durch süchtigen Konsum von Sex; mangelnde Selbstwahrnehmung durch Vorwurf, den Mangel an sinnvollem Tun durch Arbeitswut, kreativen Ausdruck durch zwanghafte Getriebenheit; sinnhaftes Tun durch zwanghafte Leistung und den Verrat der Eigenart durch den Wahn, besonders sein zu müssen.
Fritz Perls sagte, der neurotische, das ist der normale, konditionierte Mensch, habe Löcher in seiner Persönlichkeit. In der Tat ist es so, dass, wenn wir unsere Ersatzhandlungen mit freundlicher Aufmerksamkeit beobachten, wir früher oder später bei dem großen schwarzen Loch landen, das gewöhnlich als Zeichen von Depression, das heißt Selbstunterdrückung gedeutet und gefürchtet wird: der Leere.
Hier liegt eine große Chance, die diejenigen immer wieder vertun, die der Angst Macht über sich einräumen – und wer täte das nicht – und vor dem Loch zurückweichen so schnell sie können, zurück zu ihren unwesentlichen Ersatzhandlungen. Wenn sie aber – durchaus mit Angst, aber auch mit Mut – beharrlich und aufmerksam bei diesem Loch verweilen, dann mag es geschehen, dass die Zeit ganz Gegenwart wird und sich ein Raum auftut, der sich füllt mit dem, woran sie sich selbst wiedererkennen. Auf einmal sind sie dann einfach da, allein aber nicht einsam, sondern auf merkwürdige Weise verbunden. Oder sie empfinden Zuversicht, entschlossen ihren Weg zu gehen, selbst wenn sie noch nicht klar sehen, wohin der führt. Oder sie kommen in Kontakt mit einer Kraft, von der sie nichts wussten und die sie doch als zugehörig annehmen. Oder sie spüren Entschlossenheit, das Notwendige (das ist das, was die Not wendet) zu tun, auch wenn ihnen noch verborgen ist, was sie zu tun haben. Für manche erscheint, nachdem sie sich der Dunkelheit lange genug ausgesetzt und die Angst vor dem Vergehen, die oft mit dem Schmelzen verbunden ist, ertragen haben, die Welt in diesem Moment deutlicher, klarer oder heller, oder aber farbiger und weicher. Vielleicht sagen sie dann einfach nur: "Ach so!" und die Leere wird zum Tor zur Fülle.
Die heilsame Beziehung
Ich sprach am Anfang vom Wesen als Inbild. Zur Verwirklichung dieses Inbildes braucht die Person ein Vorbild oder Leitbild, wie die Jungianer sagen. Das kann die Mutter sein oder der Vater, ein Freund, der oder die Geliebte, der Mann oder die Frau, oder auch ein Therapeut. In der Beziehung zu einer Person, die den Kontakt zum Wesen nie ganz verloren oder aber wiedergefunden hat und selbst beharrlich bemüht ist, die Tür offen zu halten, kann sich das Wesen in der Person zu wesentlichem Dasein entfalten.
Martin Buber unterschied zwischen Ich-Du- und Ich-Es-Beziehungen. In der Ich-Es-Beziehung sehen wir die Welt sachlich. Die Mutter, die bei der Geburt ihr neugeborenes Kind nicht erkennt, weil sie selbst wesensblind und darüber hinaus narkotisiert war, wird in der Folgezeit alles richtig machen, genug füttern und schmusen und rechtzeitig wickeln, und doch wird dem Kind etwas fehlen. Der Mann, der ein guter Mann ist, seine Frau sicher versorgt und ihr treu dient und vielleicht sogar ein toller Liebhaber ist, sie aber nicht erkennt jenseits von richtig und falsch, gut oder schlecht, frustrierend oder befriedigend, wird immer Zweifel haben, ob er der richtige Mann und sie die richtige Frau ist.
Ebenso ist es mit der Freundschaft zu sich selbst. Für Buber kann der Mensch sich selbst in seinem Wesen nicht finden als Ich-für-sich, also als Subjekt, das sich in einer Ich-Es-Beziehung sich selbst gegenüber wie zu einem Objekt verhält, sich damit selbst erst zur Sache macht und dann – gleichsam nachträglich – sich selbst wie einem anderen Ich gegenübertritt. Vielmehr ist der Mensch sich selbst von vornherein als Ich nur in einer ursprünglichen, unableitbaren Ich-Du-Beziehung gegeben; sein Sein ist bestimmt vom menschlichen Miteinanderdasein in einer gemeinsamen Welt, das sich im Dialog vollzieht.
Als Analytiker, Bioenergetiker, Gestalttherapeut et cetera arbeiten wir am Charakter: Der Patient leidet an einer Fixierung auf dieser oder jener Stufe, da muss man dieses oder jenes tun und so weiter – kausales Vorgehen also, wie in jeder naturwissenschaftlichen Therapie. Das ist Ich-ES-Beziehung. Dabei kann alles, was ich sachlich oder rational weiß, nützlich zum Tragen kommen. Doch ich verfehle so den anderen in seinem Wesen.
Der am Wesen orientierte Psychotherapeut befindet sich in der Ich-Du-Beziehung dem Patienten in unmittelbarer Ausschließlichkeit gegenüber. Es gibt im Moment dieser Beziehung nichts als sich und ihn oder sie in ihrer primären Verbindung im Wesen. Alles Ich-Es ist im Hintergrund verfügbar und wirksam als Handwerkszeug, doch nur dort, wo der Therapeut sich voll mit seinem eigenen Sein dem Sein des Patienten stellt, die Frau dem des Mannes, die Eltern dem des Kindes und so weiter, kann es zu einer heilsamen Ich-Du-Beziehung kommen, die die entscheidende Voraussetzung für Menschwerdung ist.
Fazit: Am Charakter kennen, im Wesen erkennen wir einander.