Beachtung – ein menschliches Grundbedürfnis

Erscheinungsjahr:
1993
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Das Bedürfnis nach Beachtung wird in der psychologischen Literatur bisher weitgehend vernachlässigt. Das für mich Brauchbarste, was ich zu diesem Thema gelesen habe, fand ich bei Idries Shah in seinem Buch Learning How to Learn, Octagon Press (dt. Wege des Lernens. Diederichs) im Kapitel Characteristics of Attention and Observation. Die Psychoanalyse beschäftigt sich zwar mit diesem Thema in der Objektbeziehungstheorie, doch auf einem abgehobenen, theoretischen Niveau, das die Gegebenheit eines wirklichen Bedürfnisses eher verschleiert als erhellt, zum Beispiel durch die unglückliche Formulierung gesunder Narzissmus. Interesse am eigenen Körper und der eigenen Person ist Voraussetzung für Überleben, für Wohlbefinden und für Selbstkenntnis und so gesund wie der Durst für einen ausgeglichenen Wasserhaushalt; der Narzissmus hingegen bezeichnet die krankhafte Selbstverliebtheit; die ist genauso ungesund wie die Trunksucht.

Ein Mangel an Beachtung in der frühkindlichen Entwicklung führt zu verschiedenen Formen des Narzissmus bis hin zum Autismus. Der in sich selbst verliebte Narzissus ertrinkt in dem Gewässer, in dem er sich spiegelt, während seine bessere Hälfte, die Nymphe Echo, sich gekränkt über ihre verschmähte Liebe in die Wälder zurückzieht und nichts Eigenes mehr, nichts Unerhörtes von sich gibt. Der Mensch, der nicht lernt, sich dank der Beachtung durch andere im Laufe der Zeit selbst zu beachten, bleibt angewiesen auf die Selbstbestätigung durch Spiegelung in den anderen und in den eigenen Gedanken. Er ertrinkt entsprechend der Legende von Narzissus und Echo – in diesem See des unbewussten Bedürfnisses nach Beachtung, vernachlässigt die aktive Verfolgung seiner Neigungen, reduziert sich aufs Pflanzendasein (das Vegetieren) und reproduziert das Vorgegebene.

Beachtung ist ein menschliches Grundbedürfnis wie Hunger oder Durst oder das Bedürfnis nach Vitamin C. Wenn wir zu lange dursten, werden wir krank und sterben. Wenn wir zu lange kein Vitamin C bekommen, werden wir krank und sterben. Wenn wir keine Beachtung bekommen, werden wir krank – und sterben schließlich. Das erste Experiment zu diesem Phänomen stammt von König Friedrich II von Sizilien, Kaiser des Heiligen Römischen Reiches. Er wollte herausfinden, ob die Sprachen angeboren oder gelernt wären, und ließ zu diesem Zweck Neugeborene von Ammen aufziehen, die sie füttern und rein halten, sich ansonsten jedoch jeglichen Kontaktes enthalten sollten. König Friedrich II konnte mit dem Ergebnis sehr zufrieden sein. Die Kinder lernten nicht sprechen, also waren die Sprachen erlernt. Er beobachtete einen weiteren Befund: ein Gutteil der Kinder starb. Dieser Befund blieb ungedeutet. Sie starben, so zeigt neuere Forschung, wahrscheinlich an einem Mangel an Beachtung.

Konrad Lorenz beobachtete bei frischgeschlüpften Graugänsen dass sie alles als Mutter nahmen und ihm folgten, was sich fortbewegte und quakte, ob das nun die mütterliche Graugans oder Konrad Lorenz war – es hätte vermutlich auch ein Fußball mit einem eingenähten Lachsack sein können. Das entsprechende Phänomen beim Menschen beschrieben Klaus und Kennell als die Mutter-Kind-Bindung. Bereits im Mutterleib findet ein intensiver Austausch zwischen Mutter und Kind statt. Sobald das Neugeborene mit seinem ersten Schrei sein Dasein kundgetan hat, fängt es an zu schauen. Das erkennende Leuchten in den Augen der Mutter sagt ihm "Willkommen! Wie schön, dass du da bist." In dem Maß, in dem die Mutter in der ersten Phase der Prägung und später immer wieder beim Stillen zu dieser eindeutigen Zuwendung bereit ist, wird der neue Mensch sich in dieser Welt beheimaten und zu sich finden können. Je mehr die Bestätigung des Daseins durch die Mutter und später durch die erweiterte Umwelt fehlt, umso mehr wird der Mensch dazu neigen, sich in der Welt nicht willkommen, fremd und überflüssig zu fühlen, sich zu isolieren und unter Stress außer sich zu geraten. Einige der als schizophren diagnostizierten Menschen, mit denen ich gearbeitet habe, erinnerten sich an eine frühe Umwelt, in der sie sich, so wie sie waren, in ihrer Eigenart völlig verkannt oder gar abgelehnt und in der Umgebung, in die sie hineingeboren waren, absolut fehl am Platz wussten. Kein Wunder, dass sie die Gewohnheit entwickelten, unter Stress die Verbindung zum Körper und zur Welt aufzugeben. Einer von ihnen, der diesen Reflex oder diese seine Neigung als Konditionierung verstehen und annehmen gelernt hatte, sagte, wenn man ihn fragte, wie es ihm geht, lachend: "Mich gibt's nicht." Solange er nicht da war, konnte ihn weder der Mangel an Daseinsbestätigung durch fehlende Beachtung noch feindliche Beachtung durch elterliche Gewalt in seinem Dasein gefährden.

Die Meister sagen: Bevor wir Menschen werden, sind wir erst Mineral, dann Pflanze, dann Tier. Wir brauchen Beachtung auf allen vier Ebenen unseres Seins. Wir brauchen Beachtung zur Bestätigung des Daseins – wie der Stein. Wir brauchen – wie die Pflanze – Beachtung zur Anerkennung unserer Zugehörigkeit unserer Neigung, Wurzeln zu schlagen und in den Himmel zu wachsen, der Fähigkeit zu geben und zu nehmen, unserer Empfindsamkeit und unserer Abhängigkeit vom Klima. Wir brauchen – wie die Tiere – Beachtung unserer Bedürfnisse und Neigungen, unserer Grenzen und unserer Freizügigkeit, unserer Lust zu Paarung, Nestbau und Brutpflege. Und wir brauchen als Menschen zur Entwicklung unseres Selbstbewusstseins die Wahrnehmung unseres Wesens, aus dem heraus wir selbstverständlich sagen können: "Ich bin da, ich gehör dazu, ich habe meinen eigenen Raum, ich weiß, wer ich bin – ich bin, der ich bin."

Der Umgang mit dem Bedürfnis nach Beachtung wird in der frühesten Kindheit gelernt. Meist bleibt dieses verkannte Bedürfnis unbewusst und der Umgang damit zufällig und primitiv im Gegensatz zu anderen Primärbedürfnissen, wie zum Beispiel dem nach Nahrung, dessen Befriedigung im Laufe des Lebens mehr und mehr kultiviert wird. Der Säugling plärrt, wenn er an Hunger oder einer anderen bislang fremden Empfindung leidet. Der Dreijährige kann bereits "Mama, ich hab' Hunger" sagen, mit sechs Jahren kann er bei der Zubereitung der Speisen oder beim Tischdecken helfen; mit neunzehn Jahren kochen wir Nudeln mit Tomatensoße für unsere Arbeits- oder Studienkollegen und mit vierzig Jahren kann man von den meisten eine ordentliche Tischrede erwarten. Vor allem lernen wir immer mehr, mit dem Bedürfnis nach Nahrung zu haushalten und auf den Happen zwischendurch zu verzichten, wenn eine gute Mahlzeit winkt. Nicht so im Umgang mit dem Bedürfnis nach Beachtung. Da bleiben die meisten von uns so undifferenziert wie am Anfang und angewiesen auf zufällige Quellen von Beachtung.

Ich folge in meiner Einschätzung Idries Shah: Der Faktor Beachtung wirkt in praktisch allen zwischenmenschlichen Begegnungen. Alles, was Menschen miteinander tun – sei es geben und nehmen, verkaufen und kaufen, führen und folgen, lehren und lernen, predigen und horchen und so weiter – dient dem Austausch von Beachtung. Je bewusster das Bedürfnis nach, der Austausch von und der Umgang mit Beachtung ist, desto größer sind die Chancen, dass wir in einer Begegnung außer Austausch von Beachtung auch noch anderes bewirken können.

Wenn wir jedoch nicht wissen, dass wir und wieviel Beachtung wir brauchen, und meinen, wir täten etwas anderes (lehren und lernen, kaufen und verkaufen und so weiter), dann sind die Chancen groß, dass wir weniger effektiv sind in beiden Aktivitäten: dem bewussten Vorhaben und dem unbewussten Austausch von Beachtung. Der Versicherungsvertreter, der sorgfältig hinhört, was sein Kunde wirklich braucht und ihm von einer Versicherung, die dieser nicht braucht, vielleicht sogar abrät, wird das Vertrauen des Kunden gewinnen und dieser wird sich immer wieder an ihn wenden, wenn er eine Versicherung braucht. Wenn er jedoch nicht beachtet, was sein Kunde wirklich braucht, wird er ihm vielleicht einen guten Abschluss abringen können, doch auf die Dauer wird er ihn verlieren.

Vor der Verkäuferin, die sich auf unseren Wunsch, uns "nur mal umschauen" zu können, in der Nähe hält und den Kopf schüttelt, wenn wir etwas anprobieren, was uns nicht steht – auch wenn es das teuerste Stück ist – und mit leuchtenden Augen sagt, "Das steht Ihnen!" – selbst wenn es das billigste Stück ist – von dieser Verkäuferin fühlen wir uns angemessen beachtet, lassen wir uns gerne beraten – und etwas verkaufen. Doch jener, die sich an unsere Fersen heftet, um uns auf jeden Fall das teuerste Stück anzudrehen, auch wenn es uns nicht steht und nicht gefällt, versuchen wir zu entkommen.

Der Therapeut, Lehrer, Vorgesetzte und so weiter, der weiß, wieviel Beachtung er braucht und tagaus, tagein bekommt, ist weniger bestimmt von der Angst vor einem Verlust an Popularität, Anerkennung oder Einkommen, kann sein Verhalten freier vom Beachtungshunger steuern und kann leichter, falls gelegentlich notwendig, auch eine bittere Pille zumuten.

Die Unklarheit der Motivation kann die Effektivität unserer Handlungen empfindlich beeinträchtigen. Sie beeinflusst zum Beispiel erheblich die Dynamik des Helfersyndroms und der damit verbundenen Neigung zum sogenannten Ausbrennen. Viele Helfer, die ihren Beruf bewusst aufgrund idealistischer Ziele wählten, sind unbewusst motiviert von dem Bedürfnis nach Kontakt, Beachtung und Anerkennung für Erfolg, das sie im direkten und gleichrangigen Kontakt mit Unabhängigen nie befriedigen gelernt haben. Ihre häufig von bedürftigen Eltern konditionierten Klienten sind jedoch hellhörig gegenüber solcher Motivation und verweigern in der Regel die Kooperation, die zum Erfolg führen könnte, solange sie nicht sicher sein können, dass der Helfer sie nicht zur Selbstbestätigung und zur Befriedigung anderer Primärbedürfnisse braucht. Das führt dazu, dass ein auf diese Weise unbewusst motivierter Helfer in seiner Arbeit immer mehr gibt, als er von Kollegen, Freunden und Familie bekommt, und schließlich müde und verzagt, wenn nicht gar böse auf die undankbaren Klienten oder aber depressiv wird.

Beachtung mag unangenehm sein oder angenehm, freundlich oder feindlich – Hauptsache, wir finden Beachtung. Ein Kind, das den ganzen Tag keine Beachtung bekommen hat, quengelt am Abend. Dann wird es gescholten oder bekommt sogar seine gehörige Tracht Prügel, kann weinen, sich dabei selbst spüren und – wenn auch unglücklich – in seinem Bedürfnis nach Beachtung befriedigt einschlafen. Für viele von uns war es schlimmer, überhaupt nicht berührt zu werden, als gelegentlich eine Ohrfeige zu bekommen. Und die meisten derer, die ich frage, haben die Schelte dem Liebesentzug vorgezogen.

Der Mangel an Beachtung und Selbstbeachtung und die damit verbundene Gier nach Beachtung durch andere, bei gleichzeitiger Angst vor der Abhängigkeit von anderen, kann großen Stress verursachen, der zu Unzufriedenheit, Elend und psychosomatischen Krankheiten führen kann. Doch nicht nur der Mangel – auch ein Übermaß an Beachtung kann schaden. Ich denke hier an die vielen Verwöhnten und Überforderten, die von ihren Eltern als Tröster, Ratgeber, Partner, Eltern oder gar Sexualobjekte missbraucht wurden und als Freunde ihrer Eltern zu viel Beachtung bekamen, doch nicht geachtet wurden in ihrem kindlichen Dasein; die als Kinder keinen geschützten Raum hatten und in ihrem Wesen und der sich daraus entwickelnden Eigenart verkannt wurden; die überfordert waren damit, ihre Eltern verstehen zu müssen, und die zu viel bringen mussten, um dazuzugehören.

Wenn ich Menschen, die an psychosomatischen Krankheiten einschließlich Krebs leiden, nach dem Krankheitsgewinn frage, nennen fast alle eine deutliche Zunahme an Beachtung – Beachtung durch andere und Beachtung durch sich selbst. Manche erleben dies als Chance, sich selbst beachten zu lernen und sich so aus der Identifikation mit den Vorstellungen anderer, durch die sie sich bislang Beachtung zu sichern hofften, zu lösen.

Menschen, die nicht wissen, wieviel Beachtung sie brauchen und wie sie dazu kommen sollen, unterwerfen sich oft den Bedingungen der Personen oder Organisationen, von denen sie ihre Beachtung beziehen und die als Gegenleistung einen ungebührlichen Einfluss auf das Denken der nach Beachtung lechzenden Person ausüben. Ein Paradebeispiel für diese Art von Versklavung ist die sogenannte Liebe in Zweierbeziehungen, wie sie in der Popmusik besungen wird. Die überwältigende Mehrzahl der Schnulzen, Schlager oder Hits folgt dem Muster, "du, du, nur du allein" und "ohne dich kann ich nicht leben". Dadurch wird deutlich, dass es in diesen Beziehungen nicht um die Liebe von selbstständigen Personen geht, die ihr Leben in Hingabe mit einer anderen selbstständigen Person teilen, um sie in ihrer Eigenart kennenzulernen und sich selbst zu erkennen zu geben, sondern um die Liebe des Säuglings zu seiner Mutter, auf deren Beachtung er angewiesen ist und die zu verlieren eine Katastrophe wäre.

Laut Shah können viele paradox erscheinende Änderungen von Meinungen, Bekanntschaften und Verpflichtungen auf den Wechsel einer Quelle für Beachtung zurückgeführt werden. Da die meisten Menschen häufig an einem Mangel an Beachtung leiden, werden sie fast immer durch ein Angebot an Beachtung stimuliert. Shah sieht darin einen der Gründe, warum neue Freunde oder Umstände den alten vorgezogen werden. Der gewohnte Partner hat meist wenig Chancen gegenüber der neuen Liebe, von der sich die beachtungshungrige Person endlich verstanden fühlt und die ihr besser zu ihr passend oder gar vom Schicksal für sie bestimmt erscheint. Meist dauert diese Einschätzung so lange, wie der Reiz des Neuen beziehungsweise der Hormonrausch der Verliebtheit, die irgendwann von der Notwendigkeit bewussten Austauschs von Beachtung abgelöst wird und – wenn's gut geht – übergeht in das liebevolle Bemühen herauszufinden, wer der andere vom Wesen her wirklich ist jenseits der allzeit verfügbaren Quelle von Beachtung.

Der unbewusste Umgang mit dem Bedürfnis nach Beachtung könnte auch ein entscheidender Faktor bei vielen Formen der Sucht sein. Trunksüchtige betäuben und überwinden vorübergehend ihr Gefühl der Wertlosigkeit, das auf eine mangelnde Bestätigung ihres Wertes als Geschöpf durch Beachtung ihrer Eigenart zurückgeführt werden kann, während andere das gleiche Gefühl durch Arbeits- und Geltungssucht kompensieren. Doch auch das Umfeld hat Beachtungsgewinn durch das Leiden an den Süchtigen. So berichtet Eric Berne in Spiele der Erwachsenen von den Ehefrauen, die durch den Jammer über den furchtbaren Ehemann bei den Nachbarinnen viel Beachtung erwirken.

Ganz sicher spielt Beachtung eine entscheidende Rolle in der verbreiteten Sucht nach Sex. Das Bedürfnis nach Beachtung ist in unserer an Macht und Kontrolle orientierten Zeit als Schwäche verpönt wie die anderen Primärbedürfnisse nach Angenommensein, Geborgenheit, Berührung, Zuwendung und Nähe, während der zum Sex verkümmerte Umgang mit der Sexualität zum Leistungssport mit erklärter Zielmarke Orgasmus geworden ist, wo man was können und was bringen kann oder muss. Nicht wissend, dass sie motiviert sind vom Bedürfnis nach Beachtung und anderen Primärbedürfnissen, betätigen sich so Millionen immer und immer wieder sexuell, ohne Erfüllung zu finden. Wer Beachtung braucht, wird durch diese Art von sexueller Betätigung ebenso wenig Frieden finden wie er Durst mit Kartoffeln stillen kann.

Ganze Industrien leben von unserem unbändigen Hunger nach Beachtung: Die Mode-, Sport-, Kosmetik-, Auto-, Unterhaltungs-, Rüstungs-, Einrichtungs- und andere Branchen machen Milliarden Umsätze – weniger, um uns zu kleiden, zu schützen oder zu schmücken, sondern vor allem im Geschäft mit der Beachtungssucht. Das Ganze kostet so viel Arbeitszeit, dass beim sogenannten Feierabend keine Kraft mehr zum Feiern – zum Austausch von Beachtung – bleibt. Da könnte man neidisch werden auf die sogenannten Wilden. Wir rackern täglich acht bis zehn und mehr Stunden, um das Geld für all das Zeug zu verdienen, was wir nicht brauchen – während wir eigentlich Beachtung brauchen – und finden keine Zeit mehr, einander im freundschaftlichen Austausch oder aber in der Meditation uns selbst zu beachten. Jene hingegen verbringen etwa zwei bis drei Stunden täglich damit, ihren Lebensunterhalt zu erwirtschaften, während sie den Rest der Zeit sich selbst, einander, die Natur um sie herum und das große Geheimnis, das in alledem wirkt, beachten. Dabei entwickeln sie – so habe ich mir sagen lassen – einen dem unseren gegenüber unvergleichlich reichhaltigeren ökologischen und spirituellen Wortschatz für die Beschreibung der Beziehung des Menschen zu seiner inneren und äußeren Welt. Dieser Reichtum an Sprache entspricht einem differenzierten Bewusstsein für die inneren Dinge, für die Beziehung des Menschen zur Umwelt und dem geistigen Bereich, von dem wir uns dank unserem rasanten Fortschritt weit entfernt haben.

Ein Beispiel für den heilsamen Umgang mit dem Bedürfnis nach Beachtung finden wir bei Momo. Ihr Autor Michael Ende beschreibt, wie sie so zuhören konnte, "dass dummen Leuten plötzlich sehr gescheite Gedanken kamen; dass ratlose und unentschlossene Leute auf einmal ganz genau wussten, was sie wollten. Oder dass Schüchterne sich plötzlich frei und mutig fühlten. Oder dass Unglückliche und Bedrückte zuversichtlich und froh wurden. Und wenn jemand meinte, sein Leben sei ganz und gar verfehlt und bedeutungslos und er nur irgendeiner unter Millionen, der ersetzt werden konnte wie ein kaputter Topf, dann wurde ihm klar, dass es ihn, genau so, wie er war, unter allen Menschen nur ein einziges Mal gab und dass er deshalb auf seine besondere Weise für die Welt wichtig war. So konnte Momo zuhören!" Wie wäre es, wenn wir einander und vor allem uns selbst so, das heißt, mit aller Aufmerksamkeit und aller Anteilnahme zuhörten?

Es gab zu allen Zeiten in den Bewusstseinsschulen der Menschheit Unterweisung im sinnvollen Umgang mit Beachtung. Doch ohne den entsprechenden traditionellen Kontext, ohne Anleitung, ohne Hinweis auf den rechten Zeitpunkt, den stimmigen Ort und die entsprechende Gemeinschaft und ohne Supervision kann man in der Übung leicht wieder in die gewohnte Voreingenommenheit mit Beachtung abrutschen. Graf Dürckheim hatte mich gelehrt, à la Zazen gerade zu sitzen und den Fluss meines Atems und meiner Gedanken zu beobachten. Nicht selten beobachtete ich dabei Gedanken wie diese: "Wenn mich der Karlfried jetzt sähe – ob ich wohl richtig gerade sitze? Ob ich wohl den Atem richtig kommen und gehen lasse? Ob ich wohl ...?"

Rumi, der Sufi, soll eines Tages lachend in seiner Schule berichtet haben: "Stellt euch vor, ich sah gerade einen Mann im Fluss ertrinken – ich glaube, er kam aus Samarkand – der schrie: 'Hilfe! Hilfe! Mein Hut, mein Turban'!" Um den Witz zu verstehen, muss man wissen, dass die Leute aus Samarkand auf nichts so großen Wert legten wie auf ihre Kopfbedeckung. Ihr Statussymbol war ihnen lieber als ihr Leben. Wie gut, dass wir nicht aus Samarkand sind.

Rumi wurde nicht müde, seine Schüler an die notwendige Entwöhnung vom zufälligen Austausch von Beachtung zu erinnern mit der Aufforderung: "Schaut nicht auf mich – nehmt, was ich in der Hand halte!"

Zum gleichen Thema sagte Dürckheim einem Sanyasin, der beglückt war über das Angebot seines Gurus, immer wieder zum Tanken kommen zu dürfen: "Du kannst auch bei mir gerne immer wieder zum Tanken kommen; nur eines darfst du mit dem hier gezapften Benzin nicht machen: immer wieder im Kreis um die Tankstelle fahren!"

Idries Shah empfiehlt zur Lösung aus der Versklavung durch den unbewussten Drang zum Austausch von Beachtung: "Studiert, wie ihr Beachtung auf euch zieht, schenkt, aufnehmt und austauscht."